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Die missbrauchte Religion

Von Lale Akgün / 16. Juli 2013
picture alliance | Christian Ohde / CHROMORANGE

In Deutschland hinkt die Integrationspolitik seit Jahren der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. Wahrscheinlich, weil dieser Politikbereich am wenigsten mit Wissen besetzt ist und am meisten mit Emotionen, um nicht zu sagen mit Angst. Angst, etwas falsch zu machen. Angst, Wähler zu verschrecken. Dazu kommt eine erschreckend selektive Wahrnehmung: der deutsche Durchschnittspolitiker versteht unter Migrant meist natürlich […]

In Deutschland hinkt die Integrationspolitik seit Jahren der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. Wahrscheinlich, weil dieser Politikbereich am wenigsten mit Wissen besetzt ist und am meisten mit Emotionen, um nicht zu sagen mit Angst.

Angst, etwas falsch zu machen.

Angst, Wähler zu verschrecken.

Dazu kommt eine erschreckend selektive Wahrnehmung: der deutsche Durchschnittspolitiker versteht unter Migrant meist natürlich nur „die Muslime“. Und dabei die besonders Frommen, um nicht zu sagen, die Orthodoxen.

Und weil die Politiker/innen so wenig über die Migranten/innen wissen (O-Ton von einem  Politiker in einer der vielen Talkshows: „Meine Frau ist Lehrerin, ich kenne mich mit dem Thema aus“ – oh!!! was für ein Qualitätsnachweis!!), und weil sie unter Migranten nur Muslime einordnen, ohne auch etwas vom Islam zu verstehen, sind sie froh, wenn sie sich an irgendwas festhalten können.

Im Moment halten sie sich an den Moscheevereinen fest. Irgendjemand muss ihnen ins Ohr geflüstert haben, dass man in Moscheevereine gehen muss, wenn man Integrationspolitik macht oder Wahlen gewinnen will. (Und hier noch ein O-Ton: „Ja, wo soll ich sonst Migranten begegnen, wenn nicht in der Moschee!“)

Wie einfach wäre doch Integrationspolitik, wenn alle 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund die Moscheen zu ihrem zweiten Zuhause erklären würden. Dann könnte man einen Besuch in der Moschee ableisten und – Wumms! – wären alle Integrationsprobleme gelöst.

So ist es aber nicht.

Leider?

Gott sei Dank!

Integration und Islam sind nicht kausal miteinander verbunden. Es ist wahr, dass hierzulande durch die misslungene Zuwanderungspolitik der ersten 50 Jahre der Bundesrepublik eine besonders große Gruppe von Menschen lebt, die Muslime sind und Integrationsdefizite haben. Aber diese Menschen sind nicht un-integriert, weil sie Muslime sind. Im Umkehrschluss integrieren sie sich auch nicht besser, wenn man als Politiker/in täglich einen Moscheebesuch macht.

Die Rechnung der muslimischen Verbände, der Orthodoxen und Ultras, ist aufgegangen. Jahrelang sind sie mit der Behauptung hausieren gegangen, Integration werde gelingen, wenn man sie nur machen ließe. So haben sie sich in Deutschland einen Platz ergattert und waren sehr erfolgreich. Denn die deutsche Öffentlichkeit, Teile der Medien und Politik haben das Angebot der Verbände gerne angenommen, weil sie sich eine schnelle Lösung bei der Integration erhofften und auch eine Reduktion der Probleme.

Ich sage: leider.

Denn die Hypothese, die Muslime als Träger des Islam könnten integriert werden, wenn man nur ihre muslimische Identität stärken würde, ist falsch.

Es gibt niemals eine Gruppenintegration. Der arbeitslose Muslim wird immer ganz andere Probleme haben als der Akademiker-Muslim, der einen anderen Zugang zu seinem Glauben hat – schon qua Bildung. Aussagen, wonach die Integration des Islam zugleich die Integration der Muslime gewährleiste, wecken Erwartungen, die nur bitter enttäuscht werden können. Integration funktioniert nur, wenn der Staat die Voraussetzungen schafft, dass sich alle Menschen als Individuen – ob gläubig oder nicht – einfügen können. Diese Voraussetzungen sind letztlich nichts anderes als Chancen, die sich dem Menschen in Beruf, Familie, Bildung und Auskommen bieten.

Man kann verstehen, dass manche Politiker sich wünschen, es gäbe eine Abkürzung in der Integrationspolitik, die Islam heißt und über die islamischen Verbände führt.

Integrationspolitik aber ist ein mühsames und zähes Geschäft, das als Querschnittsaufgabe mindestens eine Generation in Anspruch nimmt, und wenn man wie Deutschland über Jahrzehnte immer nur Unterprivilegierte angeworben hat, vielfach auch länger.

Morgen, in TEIL 2, erzählt sagwas-Bloggerin Lale Akgün von den Verflechtungen  zwischen der türkischen Erdogan-Partei AKP und religiösen Organisationen in Deutschland und von einer denkwürdigen Demo in Düsseldorf vergangene Woche.

3 Antworten auf „Die missbrauchte Religion“

  1. Von Kadir Sahinkaya am 16. Juli 2013

    Liebe Lale Akgün,
    ich teile Ihre Meinung und kann aufgrund meiner persönlichen Erfahrung,nach 36 Jahren in Deutschland,alle Punkte nur bestätigen. Ich finde es toll, dass Sie dazu Stellung beziehen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Kadir Sahinkaya

  2. Von Oedekoven Claudia am 22. Juli 2014

    Sehr geehrte Frau Dr. Akgün,

    schon Ihre lustigen Bücher zu „Tante Semra“ haben uns ausnehmend gut gefallen (sogar besser als der gleichfalls lustige „Hans mit scharfer Soße“, der gerade verfilmt wurde. Im Moment lese ich gerade Ihr Buch über die „Kopftuchmädchen“ und finde es sehr interessant, auch wenn ich nicht allen Ihrer Thesen zustimme. So habe ich beispielsweise schon einmal länger in Frankreich gelebt und auch viele Freunde dort und bin der Meinung, dass der „Laizismus“, wie er dort praktiziert wird, das Land viel stärker spaltet als das von Ihnen beschriebene „Netzwerk“ von Religion und Staat bei uns, das natürlich auch nicht ohne Probleme ist.
    Wie dem auch sei: Es macht große Freude, Ihre blitzgescheiten, verständlich ausgedrückten und leidenschaftlichen Texte zu lesen!!!
    Wie ich mich zu erinnern meine, kommen Sie ab und zu nach Wiesbaden. Hätten Sie nicht vielleicht Lust, einmal in meiner Schule – einem Gymnasium mit vielen deutschen und etlichen türkischen Schüler/innen – vorbeizuschauen zu einer Diskussionsveranstaltung? Ich lade Sie dann auch zu mir nach Hause zu Steinpilzspaghetti ein!
    Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Glück und Erfolg bei Ihrem Anliegen, die Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion in Deutschland zusammenzubringen und für die Freiheit und Gleichberechtigung besonders der Frauen und Mädchen zu kämpfen. In beidem bin ich auf Ihrer Seite.

    Mit freundlichen Grüßen
    Claudia Oedekoven

  3. Von CALIMERO am 24. Januar 2015

    Dein Foto mit den Kirchen-Schwestern passt dir zu 100%.Ich bin gespannt wann es soweit ist.Keine angst vor Extremisten-Anschlägen wir schützen dich

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