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Deutscher TV-Journalismus – eine Farce?

Von Timotheus Tiger / 3. Oktober 2011
picture alliance / Zoonar | Yann Tang

Wer ist dein Vorbild im Journalismus? Kent Brockman, legendärer News-Anchor bei den „Simpsons“? Oder doch Vera Int-Veen, unerschrockene RTL-Kämpferin für das Gute? Oder richtest du dich lieber gleich nach einer ganzen Sendung, dem ARD-Brennpunkt vielleicht? So unterschiedlich sich diese Zusammenstellung liest – eins haben alle drei gemein: sie sind irgendwie… arm. Im Ernst: Wann hast […]

Wer ist dein Vorbild im Journalismus? Kent Brockman, legendärer News-Anchor bei den „Simpsons“? Oder doch Vera Int-Veen, unerschrockene RTL-Kämpferin für das Gute? Oder richtest du dich lieber gleich nach einer ganzen Sendung, dem ARD-Brennpunkt vielleicht?

So unterschiedlich sich diese Zusammenstellung liest – eins haben alle drei gemein: sie sind irgendwie… arm.

Im Ernst: Wann hast du zum letzten Mal einen „Brennpunkt“im Ersten gesehen und danach gedacht: „Okay, jetzt habe ich das endlich verstanden?“ An welchen Brennpunkt kannst du dich überhaupt noch erinnern? Vielleicht an die Ausgabe zur „Schneekatastrophe“ im Dezember 2010? (Huuu, Schnee! Im Dezember! Sondersendung!) Oder doch eher an die legendären Betrachtungen über das Schicksal des deutschen Fußballs im Mai 2010? (Schon vergessen? Es gab tatsächlich einen „Brennpunkt“ zum Aus von Michael Ballack vor der Fußball-WM.)

Oder erinnerst du dich vielleicht noch an den „Brennpunkt“, in dem Terror-Experte Rolf Tophoven zu den Attentaten in Norwegen erklärte, es handle sich unverkennbar um eine islamistische Tat?

Nein – Moment. Das war nicht der „Brennpunkt“. Das war eine Sondersendung von PHOENIX, dem „Ereigniskanal“ von ARD und ZDF.

Aber wie wäre es mit der „Brennpunkt“-Ausgabe, in der ein Moderator die Übernahme der Weltherrschaft durch Riesen-Ameisen verkündete? Gut, kleiner Scherz, das war nun wirklich Kent Brockman in den „Simpsons“.

Okay, nun wird es ein wenig albern – aber wer hat damit angefangen?

Vera Int-Veen („Ich finde es schön, Sendungen zu machen, mit denen ich etwas bewegen kann.“) soll für ihre RTL-Sendung „Mietprellern auf der Spur“ nicht genehmigte Aufnahmen in der Wohnung einer bettlägerigen Patientin gemacht haben. Rohmaterial, das BILD zugespielt worden war, belegte, wie Int-Veen zuvor garantiert hatte: „Die Kamera bleibt draußen.“ Als der von der Situation überforderte, minderjährige Sohn den Drehort fluchtartig verließ, forderte Int-Veen ihr Kamerateam auf: „Hinterher, Leute. Kommt, kommt, kommt. Bewegt euch. Hopp, hopp, hopp. Der rennt, der rennt, der rennt.“

Volksmusik ist Grundversorgung

Verantwortliche von ARD und ZDF sind meist happy über solche Zwischenfälle, weil sie damit locker die Podiumsdiskussionen der nächsten vier Jahre überstehen können („Sehen Sie – wir BRAUCHEN den öffentlich-rechtlichen Rundfunk!“) Wenn sie nicht gerade einen Brennpunkt zum Schnee im Dezember planen oder das ZDF für 20 Millionen Euro Carmen Nebel von der ARD freikauft. (Volksmusik ist Grundversorgung. Irgendwie.)

Doch es gibt eben auch Zwischentöne, die einen grundsätzlich ärgerlich werden lassen.

Wie zum Beispiel die alljährlichen Sommerinterviews mit der Spitzenpolitik. Es geht einerseits darum, dass die letzte überraschende Frage in einem solchen Interview gefühlt aus Zeiten des Schwarz-Weiß-Fernsehens stammt.

Andererseits geht es um die generelle Frage, für wie dumm uns die Fernsehmacher eigentlich halten. Das ZDF beispielsweise interviewte in diesem Sommer Bundespräsident Christian Wulff in seinem Urlaubsort auf Norderney. Mit dem feinen Unterschied, dass Wulff zwar zum Zeitpunkt der Ausstrahlung dort war, aber noch nicht während der Aufzeichnung des Interviews. Damit aber ein Sommerinterview ein Sommerinterview ist, mit Möwen und Sonne und Strand, ließ sich Wulff eigens für das Interview mit einem Hubschrauber der Bundespolizei einfliegen. Auf Staatskosten. Während das ZDF-Team wiederum auf Gebührenzahler-Kosten hinterherreiste, beide aus Berlin.

Von Altkanzler Konrad Adenauer wird der Satz an einen Journalisten kolportiert, der um ein Interview gebeten hatte: „Ich gebe es ihnen zu fünfzig Prozent gelogen, da verdienen Sie noch am Dementi.“

Und jetzt mal im Ernst: Welche Prozentwerte haben wir denn inzwischen erreicht?

Kein Hund hinterm Ofen vorgelockt – nirgends

Ich habe in den letzten Monaten nicht eine Ausgabe der „Tagesthemen“ wirklich aufmerksam bis zum Ende verfolgt. Ich kann mich im gleichen Zeitraum an keine Exklusivmeldung von ARD, ZDF oder N24 (hahaha) erinnern, die von nachhaltiger Bedeutung für das Nachrichten- oder gar das Weltgeschehen gewesen wäre. Und ich wüsste zumindest auf Anhieb keinen einzigen Namen im deutschen TV-Journalismus zu nennen, dessentwegen ich unbedingt eine Sendung sehen will oder nach dem ich gar meine Freizeitgestaltung ausrichten würde. Nicht einen einzigen. (Es fielen mir allerdings einige ein, bei denen ich bewusst einen Teil meiner Freizeit opfern würde, um sie dauerhaft aus dem Fernsehen zu verbannen.)

Deutscher TV-Journalismus könnte so Vieles. Er könnte aufregen, aufdecken, aufmuntern. Er könnte über Radio, Online und Facebook seine Vernetzung ausspielen und die Zuschauer mitnehmen. Er könnte überraschen und verwundern. Bilden und planen. Stattdessen wird er verwaltet (öffentlich-rechtlich) oder abgeschafft (privat).

ARD und ZDF bilden jährlich eine (übrigens empörend geringe) Zahl von hochqualifizierten TV-Journalisten aus. Wo sind die ganzen Jungredakteure? Wurde ZDF-neo nur gegründet, um sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu versenden? Können nur Margarine-Werbeboys wie Sven Lorig oder Beautys wie Judith Rakers durchstarten? Mir fällt nur der WDR-„Kanzlerbungalow“ ein, wenn ich an innovative politische Formate der letzten Jahre denke. Der Kanzlerbungalow – das war 2003.

Liebe Intendanten und Chefredakteure: Traut Euch was – regt uns endlich wieder an statt auf. Noch sind wir da.

Timotheus Tiger

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O hochverehrtes Publikum,

sag mal: Bist du wirklich so dumm,

wie uns das an allen Tagen

alle Unternehmer sagen?

Jeder Direktor mit dickem Popo

spricht: „Das Publikum will es so!“

Jeder Filmfritze sagt: „Was soll ich machen?

Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!“

Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:

„Gute Bücher gehn eben nicht!“

Sag mal, verehrtes Publikum:

Bist du wirklich so dumm?

(Aus: Kurt Tucholsky, An das Publikum)

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