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Zehn Jahre EU-Osterweiterung – ein Blick zurück: Estland

Von Sophie Hubbe / 15. Juli 2014
picture alliance | CHROMORANGE / Christian Ohde

Dieses Jahr feiert die Europäische Union ihre zehnjährige Osterweiterung. Am 1. Mai 2004 traten der Europäischen Union zehn neue Staaten bei – Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. In den kommenden zwei Monaten möchten wir die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre in den neuen EU-Mitgliedsstaaten vorstellen und einen Blick auf […]

Dieses Jahr feiert die Europäische Union ihre zehnjährige Osterweiterung. Am 1. Mai 2004 traten der Europäischen Union zehn neue Staaten bei – Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. In den kommenden zwei Monaten möchten wir die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre in den neuen EU-Mitgliedsstaaten vorstellen und einen Blick auf die Gesellschaften vor Ort werfen. Was hat sich verändert und wie zufrieden ist die Bevölkerung mit dem EU-Beitritt?

Den Anfang der Reihe „Zehn Jahre EU-Osterweiterung“ macht Estland.

Estland gilt in Europa als Musterknabe der Wirtschaftspolitik – doch der Weg dahin war kein einfacher. Die EU-Mitgliedschaft war ein wirtschaftliches und politisches Sprungbrett und eine große Stütze für das nördlichste Land des Baltikums.

Die Estländerin Kai Raku hat sich von Anfang an über den Beitritt Estlands zur EU gefreut. Im Jahr 2003 war die estnische Bevölkerung aufgerufen, über den EU-Beitritt ihres Landes abzustimmen. Die breite Mehrheit der estnischen Bevölkerung stimmte ‚Ja‘, darunter auch Raku. Die Vorteile der Mitgliedschaft machen sich auch bei ihrer Arbeit bemerkbar. „Ich arbeite bei einer Non-Profit-Organisation und alle unsere Jugendprojekte werden von Jugend-Förderprogrammen der Europäischen Union unterstützt“, sagt Raku. Einen weiteren großen Vorteil sieht Kai in der Reisefreiheit. „Besonders der Austausch von Waren, Wissen und Werten hat dazu beigetragen, dass wir jetzt eine offenere und tolerantere Gesellschaft haben. Die EU-Mitgliedschaft schafft jedem mehr Möglichkeiten, sich selbst zu entwickeln.“

Intensive Lobbyarbeit nötig

Der 26-jährige Diplomat Mats Kuuskemaa aus Tallin sieht den EU-Beitritt Estlands als eine sehr wichtige Zäsur an. „Nach zwei Jahrzehnten chaotischer Politik hat die EU-Mitgliedschaft wieder mehr Ruhe und Kontinuität in Estlands Wirtschaft- und Sozialpolitik gebracht“, so Kuuskemaa. Die Hoffnung auf wirtschaftliche Unterstützung und die Anbindung an mittel- und westeuropäische Staaten waren nach der Wende klare Ziele der Politik des ehemals sowjetischen Staates gewesen. „Für mich ist die Werteverschiebung vom Materialismus, der die Einstellung der Menschen in Estland stark prägte, hin zu einer post-modernen Werteorientierung im Bereich der Umweltpolitik und Gleichberechtigung ein großer Gewinn“, erklärt Kuuskemaa. Der Weg der Veränderung sei allerdings kein einfacher gewesen. „Was den Beitrittsprozess für Estland wahrscheinlich schwieriger gemacht hat, war der Umstand, dass größere europäische Staaten Probleme hatten, Länder in der EU zu akzeptieren, die einmal zur Sowjetunion gehört hatten“, so Kuuskemaa. „Wir mussten also nicht nur die Aufnahmekriterien erfüllen, sondern gleichzeitig auch intensive Lobbyarbeit betreiben.“

Diese Anstrengungen haben sich jedoch gelohnt. Kuuskemaa sieht deutliche Fortschritte, die sich im Zuge des Beitritts ergeben haben: „Estland profitiert von den guten Entwicklungen im Bereich der Internet-Dienstleistungen und IT-Kommunikation, was uns den Einstieg in den digitalen, europäischen Markt ermöglicht hat.“ Auch der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, wie zum Beispiel der Bau der Eisenbahn Rail Baltica, ist unter anderem auf die EU-Mitgliedschaft zurückzuführen. „Die EU ist nicht nur ein Forum für die Zusammenarbeit mit europäischen Partnern, sondern bietet genauso Möglichkeiten, unser Alltagsleben zu verbessern.“

Estlands Bruttosozialprodukt ist laut EU-Angaben in den vergangenen vier Jahren kontinuierlich um 3 Prozent gestiegen und hat 2011 sogar einen Sprung von 8,3 Prozent hingelegt. Dennoch hat die Wirtschaftskraft des baltischen Landes noch nicht wieder das Vorkrisenniveau von vor 2008 erreicht. Investitionen, Privatkonsum und Export weiten sich stetig aus. Grund für diesen Erfolg ist laut EU die hohe Anpassungsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft auf die Probleme in der Krise gewesen. Hohe Einsparungen im öffentlichen und privaten Bereich führten dazu, dass sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes stark verbessert hat.

Nebenwirkungen des Fortschritts

Neben den positiven Entwicklungen gibt es auch negative Konsequenzen des EU-Beitritts. Beispielsweise seien die Lebenserhaltungskosten stark gestiegen, berichtet Raku. „Besonders die Essenspreise haben deutlich angezogen, obwohl die Gehälter in den zehn Jahren seit dem EU-Beitritt gleich geblieben sind.“ Raku findet außerdem, dass die estnischen Vertreter im Europaparlament nicht transparent genug arbeiteten.

Auch der Filmproduzent Mikk Rand kritisiert die europäische Bürokratie. „Ein Hauptgrund, gegen die EU-Mitgliedschaft zu sein, ist die Bürokratie innerhalb Europas, die oft einen enormen Zeitaufwand erfordert, ganz zu schweigen von den Mengen an öffentlichen Ressourcen, die benötigt werden, um mit europäischen Partnern zusammen zu arbeiten“, so Rand. Wie Kuuskemaa lobt er die Entwicklungen im Bereich der Infrastruktur und der internationalen Vernetzung. „Die erleichtern meinen Alltag.“ Im Allgemeinen sei die estnische Bevölkerung „zufrieden, ein Teil der Europäischen Union zu sein“.

Überall Verbesserungsbedarf

Laut einer kürzlich stattgefundenen Umfrage zur Glaubwürdigkeit von verschiedenen Institutionen sprechen 65 Prozent der estnischen Bevölkerung der EU ihr Vertrauen aus. Gerade für ein Land wie Estland, das nach langer Zeit endlich die Unabhängigkeit erlangte, war der Beitritt ein wichtiger Schritt. Land und Bevölkerung konnten im wirtschaftlichen und sozialen Bereich von den Vorteilen und Erfahrungen der Europäischen Union profitieren. Unmut und Verbesserungsbedarf finden sich heutzutage überall, auch in den EU-Gründungsstaaten.

2 Antworten auf „Zehn Jahre EU-Osterweiterung – ein Blick zurück: Estland“

  1. Von Laura Seibert am 16. Juli 2014

    …sieht aus, als könnten sich Länder wie Griechenland hiervon eine Scheibe abschneiden.
    Allerdings bedenklich, dass rechtsgerichtete Parteien in Estland so viel Macht haben, auch wenn man sich die „Linksfeindlichkeit“ durch die ungeliebte kommunistische Vergangenheit gut erklären kann.

  2. Von Kermit der Frosch am 16. Juli 2014

    Krass, 10 Jahre ist das schon her?! …aber guter Tipp, da werde ich bald mal Urlaub machen…

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