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ContraKeine Angst vor Transparenz

Von Katharin Tai / 11. September 2014
picture alliance / imageBROKER | Jens Schmitz

In Deutschland wird Datenschutz hochgehalten – doch er hat längst seine Daseinsberechtigung verloren. Die Denkrichtung der Post-Privacy fordert die Freigabe von Daten. In kaum einem anderen Land wird Datenschutz so hochgehalten wie in Deutschland. Amerikaner und Schweden können nur gelacht haben, als Google Streetview in Deutschland Empörung auslöste. Der Dienst wollte Straßenzüge fotografieren, um es […]

In Deutschland wird Datenschutz hochgehalten – doch er hat längst seine Daseinsberechtigung verloren. Die Denkrichtung der Post-Privacy fordert die Freigabe von Daten.

In kaum einem anderen Land wird Datenschutz so hochgehalten wie in Deutschland. Amerikaner und Schweden können nur gelacht haben, als Google Streetview in Deutschland Empörung auslöste. Der Dienst wollte Straßenzüge fotografieren, um es Nutzern zu ermöglichen, online das Pariser Kopfsteinpflaster oder die achtspurigen Straßen Seouls abzulaufen. Viele Deutsche regten sich darüber auf, dass ihre Häuser im Internet zu sehen sein sollten und fühlten sich in ihrer Privatsphäre verletzt.

Viele fürchten materiellen und psychischen Schaden, wenn es um die Herausgabe von persönlichen Informationen geht. Parallel zu diesem Denken hat sich in Deutschland das Rechtsprinzip der „informationellen Selbstbestimmung“ entwickelt: Bundesbürger haben das Recht, zu entscheiden, welche Informationen wie verwendet werden. Klingt sinnvoll – und das war es vermutlich auch im Jahr 1983, aus dem das entsprechende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes stammt.

Eine Zeit nach der Privatsphäre

Seit 2008 regen einige Blogger und Autoren in Deutschland eine radikal andere Denkweise an: Post-Privacy, eine Zeit „nach der Privatsphäre“. Die erste Assoziation bei dieser Beschreibung ist oft George Orwells „1984“.

"Daten zu kopieren und weiterzugeben wird immer einfacher, dies kontrollieren zu wollen, ist eigentlich vergeben Liebesmüh'". so Blogger und Kulturwissenschaftler Michael Seemann: (Foto: Ralf Stockmann)
„Daten zu kopieren und weiterzugeben wird immer einfacher, dies kontrollieren zu wollen, ist eigentlich vergebene Liebesmüh'“. so Blogger und Kulturwissenschaftler Michael Seemann: (Foto: Ralf Stockmann)

Doch auch 2014 ist schon ziemlich postprivat. Von informationeller Selbstbestimmung kann keine Rede sein. Der Blogger und Kulturwissenschaftler Michael Seemann spricht von Kontrollverlust: Wir können versuchen, unsere Daten zu kontrollieren und anderen verbieten, sie zu nutzen, doch eigentlich ist das vergebene Liebesmüh’.

„Mittlerweile werden an so vielen Stellen Daten über uns erhoben, dass wir uns dessen oft nicht bewusst sind. Das wird in den nächsten Jahren nur noch mehr werden, wenn analoge und digitale Welt weiter miteinander verknüpft werden“, sagt Seemann. Das Internet ist endgültig in unserem Alltag angekommen und wird ihn zunehmend durchdringen, ob mit selbstfahrenden Autos oder mit sogenannten smart homes, die unseren Stromverbrauch beobachten und effizienter machen sollen.

Außerdem, so Seemann, wird es immer einfacher, Daten zu kopieren und weiterzugeben. Jeder kann digitale Fotos per E-Mail verschicken, Lieder als mp3-Datei auf einen USB-Stick laden oder geheime Dokumente, die ausgedruckt mehrere Lastwagen füllen könnten, in der Hosentasche entwenden. Daten zu verbreiten ist einfach. Daten im kleinen Kreis zu behalten ist im Zeitalter globaler Vernetztheit nahezu unmöglich.

Von vielen Informationen wissen wir noch nicht einmal, dass wir oder andere sie herausgegeben haben. Indem es Daten miteinander korreliert, leitet Facebook unsere Interessen aus denen ab, die es schon kennt. Mathematiker des MIT können anhand der Freundesliste einer Person mit hoher Treffsicherheit feststellen, ob diese homosexuell ist. Man muss nicht einmal selbst das Internet nutzen. Es reicht schon, dass man auf Fotos oder in Adressbüchern anderer auftaucht. „Ist man Teil der Welt, ist man auch Teil des Internets“, sagt Michael Seemann.

Christian Heller hat das Buch 'Post-Privacy: Prima leben ohne Privatsphäre' geschrieben und dokumentiert sein gesamtes Leben online. (Foto: Fiona Krakenbürger)
Christian Heller hat das Buch ‚Post-Privacy: Prima leben ohne Privatsphäre‘ geschrieben und dokumentiert sein gesamtes Leben online. (Foto: Fiona Krakenbürger)

Alle Daten, für jeden verfügbar

Die allgemeine Datenverfügbarkeit ist das Horrorszenario der Datenschützer. Ihre Feinde sind die Großkonzerne, die mit Daten Geld verdienen. Doch gegen den Datenhandel hilft Datenschutz nicht – im Gegenteil, meint der Autor Christian Heller: „Daten werden nur durch künstliche Verknappung zur Handelsware. Facebook macht eben nicht alles öffentlich, was es sammelt, sondern verkauft die Daten und Erkenntnisse daraus. Wären diese öffentlich verfügbar, wären sie keine Ware mehr.“

Hellers Schlussfolgerung: Wenn man Datenhandel verhindern will, muss man dafür sorgen, dass Daten allgemein verfügbar werden, sie also außerhalb der Facebook-Schutzhaube publizieren. Post-Privacy bedeutet also nicht nur, dass immer mehr Daten entstehen sollen – im Idealfall sind diese Daten allgemein zugänglich.

Viele haben Angst vor den Konsequenzen der Datenverfügbarkeit und glauben, Datenschutz könne sie davor bewahren. Der Internetpublizist Jürgen Geuter sieht das anders: „Post-Privacy ist nach meiner Definition vor allem die Erkenntnis, dass das Herumdoktern an Datenflüssen gesellschaftliche Probleme wie Diskriminierung, Mobbing und Stalking nicht löst.“ Laut Geuter ermöglicht Datenschutz diese Probleme sogar erst.
Wenn es für Menschen negative Konsequenzen hat, dass andere von ihrer Homosexualität, ihrem politischen Engagement oder ihrem Faible für Koalabilder wissen, stützt der Datenschutz diese Diskriminierung. Er zwingt stigmatisierte Gruppen, sich im Privaten zu verstecken.

Nicht umsonst wird das öffentliche Coming-out aktiver Profifußballer gefordert – sie könnten die Öffentlichkeit nutzen, um das Stigma zu beseitigen, das Homosexualität noch immer anhaftet. Solange Menschen gezwungen sind, ihre Sexualität geheimzuhalten, ist das Problem die mangelnde Akzeptanz, nicht jedoch der unzureichende Datenschutz.

Stattdessen, argumentiert Christian Heller, könnte mehr Transparenz für mehr Toleranz sorgen. „Furcht resultiert oft aus Unwissenheit, die mit den schlimmsten Vermutungen ausgefüllt wird“, so Heller. „Wir wissen wenig über diese oder jene Volksgruppe, aber wir wissen, dass einer, der ihr angehört, einen Terroranschlag verübt hat. Wenn das das Einzige ist, was wir wissen, dann wird es unser Bild über diese Volksgruppe bestimmen.“ Wäre jedoch das Leben eines jeden transparenter, kämen wir nicht umhin, uns ein komplexeres Bild von unseren Mitmenschen zu machen. Pauschales Verurteilen wäre schwieriger.

Datenschutz in seiner bisherigen Form ist mittlerweile also nicht nur unrealistisch, sondern oft auch keine gute Idee. Wenn die Transparenz ohnehin kommt, lohnt es sich, nicht gegen sie zu kämpfen, sondern auf mehr Toleranz in der Gesellschaft hinzuarbeiten. So könnte Post-Privacy statt zur Entstehung eines Überwachungsalbtraums zur Stärkung unserer Gesellschaft beitragen.

Dass eine solche neue Offenheit nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis funktioniert, kann man in Schweden beobachten. Dort kann jeder einsehen, was andere verdienen und wie viele Steuern sie zahlen. Mehr geklaut und geneidet wird deshalb trotzdem nicht.



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