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DebatteAlles nur Egoisten?

Von Jacqueline Möller / 15. Januar 2016
picture alliance / Christian Spie/Shotshop | Christian Spie

Das Thema Egoismus besang der Sänger Falco bereits 1998 mit den Worten „die ganze Welt dreht sich um mich, denn ich bin nur ein Egoist, der Mensch, der mir am nächsten ist, bin ich“. In Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung sind wir angeblich noch egoistischer geworden. Eine Bestandsaufnahme.

Der Begriff „Solidarität“ entstammt der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts und bezeichnet „ ein Prinzip, das gegen die Vereinzelung und Vermassung gerichtet ist und die Zusammengehörigkeit, dass heißt die gegenseitige Verantwortung und Verpflichtung betont.“1 Der Soziologe Émile Durkheim unterschied in seinem Buch „Arbeitsteilung“ zwischen mechanischer Solidarität, welche „auf vorgegebenen gemeinsamen Merkmalen einer Gruppe beruht, zum Beispiel der Geschlechterzugehörigkeit und der organischer Solidarität, deren Basis das Angewiesensein aufeinander ist.“2

Entstehung von Gemeinschaften

Der von dem Soziologen Ferdinand Tönnies erstmals 1887 eingeführte Begriff der „Gemeinschaft“ verwendete Tönnies zunächst in Abgrenzung zum Terminus „Gesellschaft.“ In seinem Buch „Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft“, unterschied er dabei zwischen drei Arten von Gemeinschaften: Der, die sich aus der Abstammung ergebe, also der „Blutsverwandtschaft“, der der „Nachbarschaft“ die sich in Form des Zusammenwohnens ergebe und der „Freundschaft“, welche aus „dem Bewusstsein der geistigen Nähe und Verwandtschaft“ zeugte.3

Solidarität stößt jedoch an ihre Grenze, wenn Freiwilligkeit zu Zwang wird. Entgegen der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, bei denen die Arbeiter ihre Partei-und Gewerkschaftsbeiträge freiwillig einzahlten, befinden wir uns heute in einem System der Zwangssolidarität. Mit anderen Worten: wir müssen solidarisch sein. So beruht der heutige Sozialstaat auf einem Steuermodell, bei dem dem Einzahler kein Entscheidungsspielraum darüber zusteht, wie dieses Geld verwendet wird.

In den vergangenen Jahren haben wir uns weg von der Zwangsgemeinschaft und hin zur Individualisierung bewegt. So wurden noch bis 2011 alle Solidaritätsabgaben zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer hälftig getragen. Heute müssen Arbeitnehmer bereits den Größeren Teil der Krankenversicherungsbeiträge selbst übernehmen.

Internationale Tendenz: Entsolidarisierung

Das Phänomen Entsolidarisierung greift nicht nur in Deutschland um sich. „Seit den 1970er Jahren hat es in fast allen westlichen Demokratien eine Verschiebung der Ressourcenlast zu Ungunsten der Arbeiter und Angestellten gegeben“, so Christian Lammert, Politikprofessor an der Freien Universität Berlin.

Jac_Christian Lammert
Christian Lammert (Foto: Privat)

Das sei zum einen eine Reaktion auf die zunehmende Konkurrenz im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen Integration der Märkte, zum anderen spiegele es die Verschiebung der Machtressourcen zwischen Kapital und Arbeit wider. Dabei sei insbesondere der Einfluss der Gewerkschaften rückläufig. „Hier sieht man Entsolidarisierungstendenzen nicht nur zwischen Kapital und Arbeit, sondern auch unter den Arbeitern selbst.“

Zusätzlich werde immer mehr gefragt, wer Transferleistungen, die aus allgemeinen Steuern bezogen werden, beziehen darf. „In den USA ist die Unterscheidung zwischen ‚undeserving’ und ‚deserving poor’ schon lange in der Diskussion – also die Frage, wer überhaupt einen Anspruch auf kollektive Hilfe hat und wer nicht“, so Lammert. „In den vergangenen Jahren sehe ich auch in Deutschland verstärkt eine solche Diskussion und somit einen Trend zur Entsolidarisierung bei den Transfersystemen von Bedürftigen.“

Im Gegensatz zu Deutschland setzt die USA auf freiwillige Solidarität. Lange galt sie als erfolgreichere Nation, wenn es um die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit ging. Auch das Potential von US-Unternehmen wird stets positiv bewertet, vor allem auch bei der Digitalisierung. „Dem stehen hohe Armutsraten und eine wachsende Kluft in der Einkommens- und Vermögensverteilung gegenüber. Der Niedriglohnsektor ist extrem gewachsen“, so Politikprofessor Lammert. Er appelliert: „Es ist wichtig, an der herkömmlichen Zwangssolidarität festzuhalten.“

1 Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 5.,Bonn: Dietz 2011.

2 http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/18209/solidaritaet

3 F.Tönnies, Studien zu Gemeinschaft und Gesellschat, Springer Fachmedien, Wiesbaden 2012.

Hinweis: Dieser Artikel wurde nach seiner Erstveröffentlichung am 15.1.2016 nochmals überarbeitet. 

 

Lies weiter bei…

Pro | Die neue Einsamkeit

Contra | Das Gute in uns



2 Antworten auf „Alles nur Egoisten?“

  1. Von Politisches Gedankengut am 16. Januar 2016

    interessanter Artikel- Frau Merkel sollte sich diesen Artikel einmal zu Herzen nehmen, um zu begreifen, dass auch wir Deutschen unsere Solidaritätsgrenze gestoßen sind, nicht nur die Schweden….bin gespannt wie sich der Alleingang der Bundeskanzlerin auf unsere nächste Bundestagswahl auswirken wird…

  2. Von A. Klarßen am 16. Januar 2016

    Einer der ersten Artikel, die mich richtig mental gefordert haben, guter Stil, hochpolitisches Thema aber gut aufbereitet, weiter so Sagwas!

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