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DebatteBrauchen wir Utopien?

Von Camilla Lindner / 19. Februar 2016
picture alliance | Knut Niehus

Der Begriff der Utopie ist im Alltag zu einer Floskel geworden. Dabei steht er für weitaus mehr: Er ist ein hochpolitisches Denkmodell.

Die Floskel „Das ist doch utopisch“ werden viele schon gehört haben. Meist sagen wir sie zu Freunden, wenn deren Ideen einfach unrealisierbar oder gar absurd zu sein scheinen. Die Unrealisierbarkeit ist der Kern der Utopie. Utopie kommt aus dem Griechischen und bedeutet auch „der Nicht-Ort“ – Utopie ist ein Gedankenkonstrukt. Es strebt nach einer idealen (fiktiven) Gesellschaftsordnung, die sich zu einem Wunsch- oder Furchtbild verdichtet.

Das Wort „Utopie“ wurde erstmals explizit von dem Engländer Thomas Morus in seinem 1516 erschienenen sozialkritischen Roman benutzt. Die Utopie ist jedoch nicht nur ein Modell für literarische Werke oder gar eine leere Worthülse im heutigen Alltag. Utopien besitzen nach dem Muster von Thomas Morus einen politischen Anspruch: Sie kritisieren bestehende Institutionen und sozialpolitische Verhältnisse und zeichnen eine durchdachte Alternative auf. Bei alldem machen sie den Menschen zu einem aktiven, gestalterischen Wesen und schreiben jedem Individuum die gleichen Rechte zu.

Nach Thomas Morus‘ Roman Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia erschienen weitere Utopie-Schriften im europäischen Raum, so beispielsweise die des Philosophen Francis Bacon mit Neu-Atlantis oder Christianopolis des Autors und Mathematikers Valentin Andreae.

Dystopie statt Utopie

Im 18. Jahrhundert kam es zu einer Umorientierung innerhalb des utopischen Denkens. Während Thomas Morus noch von einer Utopie außerhalb der europäischen Welt ausging (wie der Begriff der Insel zeigt), entwarfen die Utopisten ab jenem Zeitpunkt eine Utopie in der Zukunft. Die Raumutopie wurde so von der Zeitutopie abgelöst.

Teil der Utopie ist immer auch ihr Gegensatz: die Dystopie oder auch Anti-Utopie. Diese zeichnet keine wünschenswerte Welt, sondern eine im Furchtzustand auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Dystopie ihre Hochzeit. Viele Menschen betrachteten das Konzept der Utopie skeptisch, zum Teil machten sie es sogar für Kriege verantwortlich. Unter anderem vertrat der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper die Meinung, dass die Utopie stets mit Gewalt zusammenhänge. Schriftsteller wie der Engländer George Orwell veröffentlichten dystopische Romane. 1949 erschien Orwells 1984, welcher von der Zukunftsvision eines totalitären Überwachungsstaates à la Big Brother erzählt.

Modernisierung der Utopie

Ende der 1960er Jahre änderte sich der utopische Diskurs durch das Wirtschaftswunder und die Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit. Protestbewegungen führten zu einem Utopie-freundlichen Klima und brachten den Diskurs in vielen Teilen Europas voran. Themen rund um Feminismus und Ökologie traten in den Vordergrund, Menschen diskutierten wieder gemeinsam und Zukunftsvisionen wurden umgesetzt.

Die Verwirklichung heutiger Utopien gilt zwar als erstrebenswert und weiterhin als Gegenentwurf zur zeitgenössischen Gesellschaft, jedoch auch als faktisch nicht unbedingt umsetzbar.

Die modernen Utopien haben aus der Vergangenheit gelernt: Denn während die Utopie lange Zeit den Anspruch verfolgte, die eigene Idealvorstellung als das Ziel der Geschichte festzulegen, bietet sich die Utopie heute als eine Möglichkeit vieler Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung an.

Moderne Utopien sind vor allen Dingen Ausdruck neuer Bedürfnisse in einer kapitalistischen und globalisierten Welt. Die Sehnsucht nach Utopien lasse im 21. Jahrhundert jedoch immer mehr nach, meint der Literaturwissenschaftler Christian Sieg von der Universität Münster. Der Mensch suche heute nur noch nach Zukunftslösungen in Teilbereichen, wie beispielsweise den Menschenrechten oder dem Umweltschutz, so Christian Sieg.

Im 21. Jahrhundert sind bislang erst zwei utopische Romane veröffentlicht worden. In Die Tribute von Panem von Suzanne Collins sieht die Zukunft wieder düster aus. In Aufstand der Denkcomputer des Physikers Richard M. Weiner ähneln Computer den Menschen immer mehr – jedoch auf eine gute Weise. In Weiners Utopie haben Computer Gefühle. Sie lieben, leiden und setzen sich gegen ihre Diskriminierung gegenüber den Menschen ein.

Die politische Überzeugung der Utopie könnte laut dem Politikwissenschaftler Andreas Heyer von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg dem linken Spektrum der Politik zugeordnet werden. Denn während Konservative an dem Jetzt-Zustand, dem Status Quo der Gegenwart oder gar Vergangenheit hängen, suchen „Linke“ weiterhin nach alternativen Lebensformen. Das zeigen Beispiele wie die Freistadt Christiana in Kopenhagen alternative Wohnprojekte, gemeinnützige Vereine und Verbände. Aber häufig zeigt sich auch bei diesen, dass die Realisierbarkeit der Utopie meist nur im kleinen Kreis stattfindet. Immerhin!?

Lies weiter bei…

Pro | Immer ein bisschen besser

Contra | Der ewige Traum 



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