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Auch nach siebzig Jahren noch Flüchtling

Von Sebastian Krieger / 14. Juni 2016
picture alliance / NurPhoto | Beata Zawrzel

Es gibt rechtliche Definitionen und gesellschaftliche Vorstellungen darüber, wer wo wann ein Flüchtling ist. Manche Menschen fühlen sich ihr Leben lang als solcher. Egal, was ihr Status sagt.

Besuch bei einer 81-Jährigen. Sie trägt Dauerwelle, dezente goldene Ohrringe und eine Kette. Zum Gespräch gibt es Tee und selbstgemachten Kirschkuchen mit Mandelrand. Wir sprechen über ihre Flucht, die mehr als siebzig Jahre in der Vergangenheit liegt.

Ihren Namen möchte sie nicht veröffentlichen. Vielleicht steht die Frau, die seit 1945 in einem kleinen Dorf in Niedersachsen wohnt, nicht gerne im Mittelpunkt. Vielleicht will sie es sich auch mit niemandem im Dorf verscherzen. Wenn sie von der Zeit nach ihrer Ankunft in Niedersachsen erzählt, sagt sie oft: „Es war nicht alles gut.“ Heute lebt sie in ihrem eigenen Haus im Erdgeschoss, in der Wohnung im ersten Stock wohnt einer ihrer zwei Söhne mit seiner Familie. Sie ist Mitglied in der Katholischen Frauengemeinde, zu ihrem 80. Geburtstag kam der Bürgermeister zu Besuch. Und trotzdem: Die Flucht als Kind wirkt bis heute nach:

Wer ist für Sie ein Flüchtling?

Ich fühle mich selbst als ein Flüchtling.

Auch nach siebzig Jahren in Deutschland?

Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich habe lange darüber nachgedacht. Eigentlich bin ich kein Flüchtling mehr, ich weiß. Aber das kommt dann so.

Die Flucht der alten Dame begann 1943. Die damals Achtjährige lebte in einem deutschsprachigen Dorf in der heutigen Ukraine (damals Russland). Als die ethnischen Russen die Dorfbewohner nach Sibirien schickten, flüchtete die Familie mit Pferd und Kutsche Richtung Westen.

„Wir waren nie lange irgendwo“, erinnert sich die Frau. „Einmal, als wir gerade in Polen waren, haben Deutsche uns gesagt: Kommt, wir nehmen euch mit, dann geht es euch besser.“ Aber sie seien nicht mitgegangen. „Wir wussten ja, wo wir dann hingekommen wären.“ Auch Deutsche, die auf russischem Gebiet lebten oder von dort flohen, wurden von den Nazis umgesiedelt oder deportiert. Erst mit Kriegsende 1945 endete das ständige Weiterziehen von Dorf zu Dorf für die Frau.

Hier wird nicht geklaut!“

Wo haben Sie gelebt, als Sie in Deutschland angekommen sind?

Verschiedene Bauern haben uns aufgenommen.

Freiwillig?

Nein, das teilte die Gemeinde so auf. Ich hatte Glück, ich hatte immer zu essen. Die Bäuerin hat zu mir gesagt: Melde dich, wenn du was haben möchtest.

Das war nicht bei allen so?

Nein, das war schlimm. Meine Mutter war bei einer anderen Familie, sie hatte es nicht so gut. Ich habe sie besucht und sie gefragt: ‚So wirst du behandelt?‘ Sie sagte: ‚Ja. Was soll ich machen?‘ Warum wir in unterschiedlichen Familien untergebracht wurden, weiß ich nicht.

Im Alltag gab es viele Situationen, in denen die Niedersachsen ablehnend auf die Neuankömmlinge reagierten. „Ich wollte etwas Kraut pflücken. Da bin ich zu der Bäuerin gegangen und hab nett gefragt. ‚Hau ab‘, sagte die nur, ‚hau ab!‘ Da war ich grade zehn oder elf Jahre alt.“

Auch in der Schule gab es Streit zwischen geflüchteten und nicht-geflüchteten Kindern. Die Frau berichtet: „Ein Mann ist nach der Schule mit dem Fahrrad vorgefahren. Als wir zu Fuß nachkamen, lag Geld auf der Straße. Wir haben uns danach gebückt. Plötzlich sprang der Mann aus dem seitlichen Graben und rief: ‚Halt, hier wird nicht geklaut!‘ Dabei wollten wir das Geld nicht ja nicht klauen, es lag einfach da. Wir haben das dann einem Lehrer erzählt, der war selbst Geflüchteter. Danach hat uns der Mann in Ruhe gelassen.“

Label „Flüchtling“

Die Klischees von stehlenden Flüchtlingen halten sich bis heute. „Das sind hartnäckige Vorurteile, bei denen die Forschung ganz klar zeigt, dass sie nicht stimmen“, sagt Olaf Kleist, der 2013 das Netzwerk Flüchtlingsforschung gegründet hat.1

Die Flüchtlingsforschung spricht vom „Flüchtlingslabel“, einem Etikett, das Geflüchteten anhängt. Neben juristischen Definitionen gibt es auch gesellschaftliche Vorstellungen davon, wer Flüchtling ist. „Das führt häufig zu Verwirrung“, sagt Kleist. Auch die Geflüchteten selbst machten sich ein Bild über sich. „Manche versuchen, das Label von sich zu stoßen. Für andere ist es etwas, das für sie sehr definierend ist. Das hat damit zu tun, wie die gesellschaftliche Stimmung gerade ist.“

Was mit dem Begriff Flüchtling assoziiert wird, ändert sich mit der Zeit. Nach dem Krieg war der Begriff ein Schimpfwort, „da waren es häufig die ‚dreckigen Flüchtlinge‘, die man nicht haben wollte“, so Kleist. Aktuell werde der Begriff für Menschen verwendet, denen man helfen sollte – ein eher positives Verständnis. Eigentlich.

Wann ist man kein Flüchtling mehr?

Kein Flüchtling mehr zu sein, das ist oft nicht einfach. „Legal hört ein Flüchtling dann auf, Flüchtling zu sein, wenn er einen dauerhaften Schutz gefunden hat“, erklärt Kleist. Das kann nach der Rückkehr ins sichere Herkunftsland sein oder durch einen dauerhaften Schutzstatus im Aufnahmeland –in Deutschland ist damit der Aufenthaltsstatus gemeint, der nach zwei Jahren Asyl und einer weiteren Prüfung gewährt werden kann. „Gesellschaftlich ist das natürlich was anderes“, fügt Kleist hinzu. Ob jemand von der Gesellschaft als Flüchtling wahrgenommen wird oder nicht, hinge nicht von den jeweiligen Gesetzen ab.

Auch aus der Sicht von Geflüchteten deckt sich die rechtliche Definition nicht immer mit den eigenen Gefühlen. So wie im Falle der 81-Jährigen: Ihr haben auch siebzig Jahre den Stempel „Flüchtling“ nicht von der Seele gewaschen.

Was empfinden Sie, wenn schlecht über Flüchtlinge geredet wird?

Ich finde es furchtbar, wenn Leute über Flüchtlinge schimpfen. Da werde ich richtig wütend! Wenn die das selbst erlebt hätten, dann würden die nicht so reden.

1 http://fluechtlingsforschung.net

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