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Die Entdeckung des Ländlichen

Von Milan Ziebula / 27. Juli 2016
picture alliance / Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/ZB | Patrick Pleul

Europaweit werden immer mehr Ökodörfer, Kommunen und Lebensgemeinschaften auf dem Land gegründet. Ihre Bewohner vermissen im urbanen Raum das Zusammenleben. Was sagt dieser Trend über unsere Gesellschaft aus?

Seit sich der moderne Mensch immer weiter von seinem Heimatort entfernt und ein Grund der Familiengründung – der Wirtschaftszusammenhalt – an Bedeutung verliert, wird auch das Netz derer, die einander helfen, poröser.

Umso größer wird der Wunsch nach nachbarschaftlichem Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung: 484 sogenannte Gemeinschaften gab es 2014 in Europa, so Eurotopia, eines der größten Verzeichnisse europäischer Ökodörfer und Gemeinschaften. Die Zahl der nicht erfassten Projekte ist weitaus höher. Das Global Ecovillages Network schätzt die Zahl der Ökodörfer weltweit auf 10.000.

Landflucht in die Kommune

Bekannte Gemeinschaften in Deutschland sind das Ökodorf Sieben Linden mit 140 Bewohnern und die Kommune Niederkaufungen mit 70 Bewohnern. Die größte Gemeinschaft der Welt ist Auroville in Indien mit 50.000 Bewohnern. Auch wenn die Entstehung der Idee der Kommune weit zurück liegt, wurde sie erst während der 68er-Bewegung populär. Die ersten Gemeinschaften auf dem Land wurden um 1970 gegründet.
Der Überbegriff Gemeinschaft beschreibt eine Gruppe von Menschen, die selbst gewählt zusammenleben, um über das gemeinsame Wohnen hinaus weitere ideelle und materielle Ziele zu verfolgen. Das Ökodorf praktiziert häufig die ökologische Landwirtschaft und orientiert sich an grünen Ideen wie dem Kampf gegen den Klimawandel. Die Kommunen strukturieren sich durch eine gemeinsame politische Vision. Sie können antikapitalistisch sein und treffen Entscheidungen über das Konsensprinzip. Der Grad der Gemeinschaftlichkeit ist sehr unterschiedlich. Einige wirtschaften gemeinsam, andere hält ein spirituelles Leben zusammen.
Lukas, 28 Jahre alt, wohnt mit seiner Partnerin und ihren zwei gemeinsamen Kindern in einer Lebensgemeinschaft und Kommune in Südniedersachsen. Die Bewohner teilen ihr Geld und treffen Entscheidungen gemeinsam. Jeden Abend essen sie zusammen. Einmal in der Woche gibt es ein Plenum, in dem über Essen, Kinder, Geld und das soziale Miteinander gesprochen wird. Einmal im Monat gibt es ein Gemeinschaftswochenende, an dem die Bewohner im Garten arbeiten oder an den Häusern bauen.

Lukas zieht das Leben in dieser Gemeinschaft dem Leben in der Stadt vor. „Ich weiß, dass die Leute, mit denen ich heute lebe, wahrscheinlich auch noch in zwei Jahren da sind. Es gibt eine Konstanz, weil die meisten mit einer längerfristigen Perspektive hierhin gekommen sind“, sagt Lukas. „In der Stadt habe ich mich immer gefragt, wie lange das gemeinsame Leben noch währt.“ Sein großer Sohn, der drei Jahre alt ist, könne sich in der Gemeinschaft viel selbstständiger bewegen. „Er traut sich mehr und kann auch alleine die Wohnung verlassen.“ Lukas selbst habe in der Gemeinschaft nicht das Gefühl, sich ständig beweisen zu müssen, ein Gefühl, das ihn in der Stadt belastet hat.

Viele Unterschiede zwischen den Gemeinschaften

Die Menschen, die sich aktiv entscheiden, in solchen Gemeinschaften zu leben, sind laut Lukas meistens zwischen 35 und 75 Jahre alt. „Die Menschen und ihre Weltanschauungen sind sehr verschieden. Es gibt Gemeinschaften, die mir sehr konservativ erscheinen, andere sind sehr progressiv“, sagt er. In einigen wohnten nur Menschen eines Milieus, die viele gemeinsame Interessen haben, andere hingegen sollen heterogener sein.
Viele Menschen verspüren in der Stadt ein Gefühl der Beliebigkeit, sie meinen, ihre Beziehungen seien austauschbarer. Sie gehen deshalb dorthin, wo sie gezwungen sind, sich mit den Menschen auseinanderzusetzen, die auch da sind. Die Globalisierung hat zur Folge, dass sich theoretisch jeder mit jedem in Verbindung setzen kann. Das kann mitunter sehr überfordernd sein. Der Rückzug in die Individualisierung kann zu einem Schutzmechanismus werden.

Keine Abkehr von der Gesellschaft

Die Gemeinschaften sind dabei nicht exklusiv. „Viele Bewohner sind auch außerhalb ihrer Gemeinschaft aktiv, etwa weil sie in der Stadt arbeiten oder weil sie viele Menschen zu sich einladen und Vorbild in Sachen alternatives Leben sein wollen“, sagt Lukas.
Der Entschluss, auf dem Land mit anderen zu leben und zu arbeiten, muss also keine Abkehr von der Gesellschaft bedeuten. Die Lebensgemeinschaft kann auch als Gewächshaus verstanden werden, in dem sich neue Ideen für ein gutes Leben entwickeln, die in die Gesellschaft getragen werden können. Veränderung ist besser spürbar, wenn man sie mit wenigen ausprobiert, wenn die direkten Auswirkungen des Handelns sichtbarer sind.
Der Trend Ökodorf macht deutlich, dass es immer mehr Menschen gibt, die aushandeln wollen, wie viel und in welcher Form sie Werte und Güter mit anderen teilen. Die Besinnung auf direkte zwischenmenschliche Beziehungen stellt eine Gegenbewegung zu den egozentrierten Tendenzen der Globalisierung dar.

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