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Wir brauchen eine neue politische Vision

Von Matthias Kunz / 6. Juli 2016
picture alliance / Hans Lucas | Xose Bouzas

Der Brexit könnte nur der Anfang sein, denn der Mainstream hat ein Marketing-Problem. Wir brauchen eine neue politische Vision, um das Projekt einer offenen, globalen Gesellschaft zu retten und voranzutreiben.

Ein älteres Ehepaar unterhält sich in einem Stadtbus in England über das, was hinter den Busscheiben passiert. „Man würde nicht denken, dass man in England ist. Dahinten ist der Marrakech-Express und an der Ecke Las Iguanas – oder was auch immer.” – „Von Miss Korea ganz zu schweigen.“ Die beiden haben vermutlich für den Austritt Großbritanniens aus der EU gestimmt. Alles andere würde mich überraschen.

Der Brexit ist ein Schock für viele, selbst für viele derjenigen, die für ihn gestimmt haben. Natürlich hatten die 17 Millionen Brexit-Sympathisanten eine Vielzahl verschiedener Gründe, für den Austritt Großbritanniens aus der EU zu stimmen. Die Konsequenz ihres Handelns hat sie nun in eine neue Schicksalsgemeinschaft gedrängt, deren Zukunft noch nicht abzusehen ist.

Keine Entscheidung entlang der Parteilinien

In der bipolaren politischen Landschaft Großbritanniens verläuft die Kluft zwischen „In“ und „Out“ keineswegs entlang der Parteilinien, sondern legt sich quer durch die Gesellschaft. Die Brexit-Unterstützer sind eine auf den ersten Blick bizarre Koalition von ländlichen Eigenheimbewohnern und de-Industrialisierten, job- und hoffnungslosen städtischen Gemeinden in der Mitte und im Osten Englands. Bei Parlamentswahlen gelten die Wohnorte Ersterer als Hochburgen der Konservativen, letztere als Basis der Labour-Party: Die einen wohnen in gepflegten Dörfern im eigenen Haus, die anderen in heruntergekommenen Reihenhaus-Siedlungen.

Beim Brexit geht es nicht nur um wirtschaftliche Fragen, das haben die Debatten vor dem Referendum bereits gezeigt. Es geht aber auch nicht nur um Immigration oder Kontrolle. Statistisch lässt sich das Abstimmungsverhalten beim Brexit am besten anhand von Einstellungen zu autoritären oder libertären Ansichten vorhersagen. Einfach formuliert: Wer eine übersichtliche Gesellschaft bevorzugt, oder beispielsweise die Todesstrafe unterstützt, der unterstützt mit großer Wahrscheinlichkeit auch Brexiti. Die Anti-EU-Revolution nährt sich aus einem Gefühl wirtschaftlicher Chancenlosigkeit und der Auflösung althergebrachter sozialer Strukturen, die sich in unserer neuen, globalisierten Gesellschaft im Moment neu sortieren.

Wir leben heute besser

Die vergangenen Jahrzehnte haben einen enormen Wandel gebracht – und für viele Menschen weltweit eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Es gibt generell mehr Offenheit und Toleranz im Alltag, auch wenn der IS und manche Politiker das gerne anders hätten. Und es gibt eine Generation, für die grenzenlose Kommunikation und Freundschaften selbstverständlich sind.

Aber viele können daran nicht teilhaben. Viele Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen haben kaum eine Chance, an dem Reichtum, den diese neue Gesellschaft bringt, teilzuhaben.

Leiharbeit und wachsende Ungleichheit in der westlichen Welt treffen auf zunehmende Konkurrenzfähigkeit anderswo – und drohen, globale Ungleichheiten eines Ausmaßes zurückzubringen, wie sie westliche Gesellschaften seit Generationen nicht gekannt haben.

Die Brexiters, Trump-Unterstützer und AfD- und Hofer-Wähler unserer Zeit kämpfen nach eigenen Angaben dagegen an. Sie haben die Vision einer wohlgeordneten Gesellschaft, eines Staates, der nach den Seinen sieht und sie gegen die anderen schützt.

Die Befürworter der offenen, vielfältigen Gesellschaft, in der der Staat die Rechte des Einzelnen schützt, müssen ihre eigene Vision noch artikulieren. Aber dafür müssen sie erst erkennen, dass diese Gesellschaft bedroht ist. Die Gegner von LGBTQ-Rechten sind nicht verschwunden, sie sind nur leiser geworden. In vielen Ländern vermehren sich rechte Einstellungen.ii Die globale Gesellschaft muss wirtschaftlich fairer werden, und ihre Befürworter, Politiker wie Normalbürger, müssen sie besser erklären.

Echte Erklärungen müssen her

Um diese Vision zu entwickeln, müssen Politiker und Medien Probleme benennen und diskutieren, ohne die autoritären Denkmuster der Vergangenheit zu reaktivieren. Was das heißt? Anstatt uns auf die simple Rhetorik von Rechtsaußen einzulassen, müssen wir alternative Erklärungen und menschenfreundliche Antworten entwickeln.

Der Niedergang der Schwerindustrie beispielsweise oder die Erosion ländlicher Gemeinden ist nicht die Schuld von Immigranten, das ist klar. Aber woran liegt es dann? Wir müssen den Betroffenen eine andere, neue und relevante Perspektive zur Erklärung bieten, wenn die Strukturen, die ihr Leben über Jahrzehnte geprägt haben, verschwinden. Und wir müssen anerkennen, dass die Anpassungsleistung, die dabei von vielen Menschen erwartet wird, eine schwierige ist – aber sie ist notwendig.

Natürlich erkennt man England in einer Straße mit Restaurants aus aller Welt – es gibt wenige andere Orte mit einer ähnlichen Vielfalt an Kulturen auf so geringem Raum. Was sich ändern muss, ist die Wahrnehmung des “Anderen“: Das Andere ist keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung. Ebenso muss sich die Wahrnehmung der globalen Gesellschaft als Bedrohung in eine Wahrnehmung der Möglichkeiten ändern. Neue Technologien, Offenheit und Diskussionen sind nur dann gefährlich, wenn sie überfordern – wer ihre Chancen verstehen und nutzen kann, wird kaum dagegen stimmen.

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