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Lernen für den großen Tag

Von Lea Räuber / 21. Februar 2017
picture alliance / dpa | Bao Kangxuan/Chinafotopress

In China machen jedes Jahr neun Millionen Schüler ihren Abschluss. Viele Eltern glauben, dass ihre Kinder nur eine Chance auf ein gutes Studium und einen renommierten Job haben, wenn sie aus der Masse herausragen.

Meimei isst am liebsten Hähnchenschenkel. Wenn sie an ihren Hausaufgaben sitzt, brät ihre Mutter meist gleich ein halbes Dutzend. Dazu muss die Zwölfjährige dann noch einen Apfel essen. Das sei gut für den Kopf, sagt die Mama.

Das Mädchen bereitet sich wie viele Millionen Schüler in China auf die große Abschlussprüfung am Ende der 12. Klasse vor. Die Punktzahl entscheidet darüber, ob und wo sie einen Studienplatz bekommt. Ohne einen Abschluss von einer Hochschule ist es fast unmöglich, einen guten Job zu finden. Das fürchtet zumindest Meimeis Mutter. China habe einfach zu viele Menschen, sagt sie. Wie die meisten chinesischen Eltern lässt sie deshalb nichts unversucht, damit ihre Tochter bessere Noten schreibt.

Für Meimei bedeutet das lange Stunden am Schreibtisch. Ihre Schule liegt im Nordosten Pekings. Nach der Schule geht sie entweder zum Nachhilfeunterricht oder sie kommt direkt nach Hause und wiederholt den Stoff des Tages. Das dauert häufig bis tief in die Nacht. Samstags hat sie ebenfalls Unterricht. Nur sonntags ist Zeit zu spielen. Aber häufig will Meimei dann einfach nur schlafen.

Das chinesische Schulsystem ist bereits Jahrhunderte alt. Es geht zurück auf die Beamtenprüfung am chinesischen Kaiserhof ab dem 6. Jahrhundert. Landesweit hatten damals Kandidaten die Chance, sich auf die prestigereiche Laufbahn eines Beamten zu bewerben. Theoretisch konnte sich jeder Chinese prüfen lassen – ob Kaufmann oder einfacher Bauer. Ziel war es, den Einfluss aristokratischer Familien zu brechen und jedem – damals noch Mann – die Möglichkeit zu geben, seine Familie aus der Armut zu befreien. Bis heute ist der Gedanke der gleiche.

Eltern kontrollieren den Lernfortschritt

Wie in Deutschland haben auch in China der Bildungshintergrund und die finanziellen Mittel einer Familie großen Einfluss auf die Chancen eines Kindes, einen guten Schulabschluss zu machen. Eltern sparen und verschulden sich, um mehr Geld für die Nachhilfestunden ihrer Kinder zu haben. Sie alle hoffen auf den einen großen Tag.

Viele Kinder leiden unter den enormen Erwartungen ihrer Familie. In den Klassen werden täglich die Testergebnisse aller Schüler ausgehängt. Schlechte Schüler müssen sich vor der Klasse für ihre Ergebnisse rechtfertigen.

Es gibt auch nicht wie in Deutschland nur einen Elternabend am Ende des Schuljahres oder einen blauen Brief, wenn alles schon zu spät ist. Kommen Schüler mit dem Stoff nicht hinterher, kontaktieren die Lehrer ihre Eltern sofort. Mittlerweile bieten viele Schulen sogar Apps für die Eltern an, die den Fortschritt der Kinder lückenlos dokumentieren. Lernen die Schüler nicht schnell genug, können die Eltern mit Zusatzunterricht nachhelfen.

Die chinesische Regierung hat zwar in den vergangenen Jahren versucht, das System zu reformieren, etwa indem sie Hausaufgaben verboten hat. Doch in der Gesellschaft ist der Leistungsdruck kaum zu mindern: Einige Eltern bettelten so lange, bis die Lehrer wieder Zusatzaufgaben für ihre Kinder erstellten. Fleiß mache fehlendes Talent wett, glauben viele Chinesen. Wer schlechte Noten schreibe, sei selbst schuld – und höchstwahrscheinlich einfach nur faul.

Kreativität kann man nicht testen

Im Ausland wird das chinesische Schulsystem zunehmend zum Vorbild. Das zumindest beobachtet Bildungsexperte Yong Zhao von der Universität Oregon. Er hat das Buch „Who’s afraid of the big bad dragon“ geschrieben. Seine These: Westliche Länder lassen sich von den guten Ergebnissen chinesischer Schüler bei der Pisa-Studie blenden. Der internationale Wettbewerb vergleicht jedes Jahr die Leistungen von Schülern in verschiedenen Fächern. China belegt stets vordere Plätze.

Die Ergebnisse basierten aber auf Tests, die sich leicht trainieren ließen, sagt Zhao. Sie brächten keine kreativen Köpfe hervor, sondern Maschinen. „Für innovative Arbeit braucht man Leidenschaft, Interesse und Talent“, sagt Zhao. Dafür sei es auch egal, wie lange man in der Schule sitze und pauke. Zhao appelliert deshalb an andere Länder, sich dem Testwahn der Chinesen nicht anzuschließen.

Auch in China wächst die Kritik am Schulsystem. Immer mehr Eltern – die aber immer noch eine Minderheit bilden – wehren sich gegen den Konkurrenzkampf unter Schülern und den Druck, den sie auf ihre eigenen Kinder ausüben müssen. Es ist meist eine Abstimmung mit Füßen: Schon seit einigen Jahren verlassen hunderttausende Studenten jedes Jahr China, um im Ausland einen Uniabschluss zu machen.

Auch die Highschool wird beliebter: 2016 machten 24.000 Chinesen ihren Schulabschluss in den USA. Ihre Eltern hoffen, dass ihre Kinder in Amerika weniger Druck ausgesetzt werden. Zudem verbessern sie früher ihr Englisch und können mit einem amerikanischen Abschluss leichter einen Studienplatz an Topuniversitäten bekommen.

Für Meimeis Eltern ist dieser Weg keine Alternative. Sie können sich den Schulbesuch im Ausland nicht leisten. Außerdem würde die Mutter ihre Tochter zu sehr vermissen, sagt sie. Meimei bleibt deshalb nicht viel mehr, als sich weiterhin auf ihren großen Tag vorzubereiten. Und zu hoffen, dass es es am Ende für sie reicht.

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