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Beziehungsarme Netzwerker

Von Milan Ziebula / 20. November 2017
picture alliance / Westend61 | Eugenio Marongiu

Wir sind reich an Kontakten. Doch viele Menschen fühlen sich einsam. Die Digitalisierung hat einen nicht unbeträchtlichen Anteil daran – obwohl sie ja eigentlich für Vernetzung sorgt.

Wer sich einsam fühlt, kann vorzeitig sterben. Laut einer US-amerikanischen Studie ist das Sterberisiko einsamer Menschen um ein Viertel höher als bei Menschen, die sich selbst nicht als einsam wahrnehmen. In Deutschland sind demnach viele Menschen gefährdet: 60 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 70 Jahren fühlen sich laut einer Untersuchung von myMarktforschung häufig allein. Das ist eine erstaunlich hohe Zahl – gemessen daran, dass wir durch die Omnipräsenz sozialer Netzwerke eigentlich jederzeit mühelos mit anderen Menschen in Kontakt treten können.

Doch dieser oft oberflächliche Kontakt reicht vielen augenscheinlich nicht aus. Soziologe Hartmut Rosa von der Universität Jena vertritt die Theorie, dass es den Menschen heute an nachhaltiger Resonanzerfahrung fehlt. Resonanz, so Rosa, beschreibt das Gefühl, wenn ein Mensch mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit Objekten oder der Natur in tatsächlichem Einklang steht. Das beinhaltet, Anerkennung von anderen zu erhalten, sich akzeptiert zu fühlen und sich in andere hineinversetzen zu können. Daraus entsteht der Eindruck, Sinnvolles zu tun und Ziele erreichen zu können.

Zu viel Beschleunigung, zu wenig Tiefe

Vereinsamung oder auch soziale Entfremdung entsteht laut Rosa, wenn dieses Resonanzgefühl abhanden kommt. In der modernen Gesellschaft sei das aufgrund des beschleunigten Lebens immer häufiger der Fall. Selbst eine reichhaltige Resonanzerfahrung hält nur selten lange an.

Speed-Dating, Fast-Food oder Power Nap – überall wird an Zeit gespart und mit ihr an Tiefe.

In seinem Buch „Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“ schreibt Rosa, dass die Menschheit zunehmend mehr Arbeitsprozesse in immer kürzeren Zeitspannen erledigt. De facto wird jedoch schlussendlich noch mehr gearbeitet: Wenn eine E-Mail schneller abgesendet werden kann als ein Brief, werden mehr E-Mails geschrieben.

Im Glauben, Gutes zu tun, überholen wir uns also selbst. Johannes, 22 Jahre alt, studiert Politikwissenschaften und kennt das Gefühl, dass Menschen und Erlebnisse an ihm vorbeirauschen. „Manchmal ist mir das alles zu viel. Partys, Lesungen, Freunde treffen, Diskussionsveranstaltungen – bei Facebook sehe ich alles und muss nur kurz klicken, um mich für ein Event einzutragen.“ Er fühlt sich unter Druck gesetzt, weil er nicht alle Möglichkeiten, Zeit mit Freunden und Bekannten zu verbringen, wahrnehmen kann. „Oft passiert es mir deshalb, dass ich von einem zum nächsten Event springe, ohne wirklich den Moment mit den Leuten genießen zu können.“

Der einsame Stadtmensch

Psychologe Manfred Spitzer betont während seines Vortrags auf den Stuttgarter Psychotherapietagen 2017 einen weiteren Grund für die wachsende Einsamkeit: Urbanisierung. „Schon heute leben ungefähr 50 Prozent der Menschen in Städten“, so Spitzer. „Demnächst soll ihre Zahl sogar auf 70 Prozent steigen.“ In der Großstadt ist soziale Isolation nicht unwahrscheinlich. Viele steuern geradewegs in die Anonymisierung, das Überangebot an Menschen und Beschäftigungsmöglichkeiten macht sprunghaft.

„Als ich für das Studium nach Berlin gezogen bin, war es am Anfang schwierig, längerfristige Kontakte zu knüpfen. Viele Begegnungen waren sehr oberflächlich“, sagt Mika, 26 Jahre alt. Dadurch, dass es unzählige Gelegenheiten gebe, neue Menschen kennenzulernen, würden viele Leute auch dann nach anderen Kontakten suchen, wenn sie sich gerade in laufenden Annäherungsphasen befinden.

Der Warencharakter von Liebe

Eine weitere Ursache für die zunehmende Einsamkeit klingt bei der israelischen Soziologin Eva Illouz an. In ihrem Buch „Konsum der Romantik“ beschreibt sie, wie Liebe und Zuneigung an Konsumgüter gebunden und damit konsumierbar werden. Waren wie Kleidung und Kosmetikprodukte würde in der Art und Weise, wie sie die Werbung präsentiere, ein romantisierender Charakter zugeschrieben. Das hat Auswirkungen auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, schreibt Illouz. Illouz ist überzeugt, dass sich romantische Begegnungen vom Privaten in den Bereich des Konsums bewegt haben, und beklagt, dass Datingplattformen Menschen zu Ware wandeln würden.

Die Anmeldezahlen für Online-Datingdienste bestätigen den Wunsch des vernetzten Menschen nach Zweisamkeit. Insgesamt knapp 12 Millionen Nutzende waren laut einer Studie 2016 in Deutschland bei rund 2.500 Portalen, darunter Tinder, angemeldet. „Ich bin schon seit zwei Jahren bei Tinder angemeldet. Wirklich verliebt habe ich mich aber noch nicht über die Plattform“, sagt Lisa, 25, Studentin in Berlin. Sie sei frustriert, weil sie zwar viel Zeit mit Tindern verbringe, aber niemanden treffe, der ihren Ansprüchen gerecht werde. „Manchmal habe ich das Gefühl, ich klicke mich durch einen schlechten Shoppingkatalog.“

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