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Digitale Entgiftung gefällig?

Von Jacqueline Möller / 16. Januar 2018
picture alliance / Zoonar | Alexandra Troyan

Zum Jahreswechsel sind sie wieder aus der Versenkung aufgetaucht: Gute Vorsätze, die die meisten von uns bald verlassen werden. Eigentlich keine große Sache, wäre nur das hier neu im Programm des Selbstbetrugs: der „Digital Detox“.

Gute Vorsätze sind so vorhersehbar und primitiv wie die Horoskope all jener Gazetten, die uns den Blick in die Zukunft vorgaukeln möchten. Die ewigen „Top Ten“ unserer Neujahrsvorsätze beinhalten das Vorhaben, ungesundem Essen abzuschwören, mehr Sport zu treiben, die Steuererklärung früher abzugeben… Dank der Digitalisierung wird die Liste nun um ein weiteren erstrebenswerten Punkt ergänzt: den Digital Detox, den Verzicht auf Smartphone, Tablet, ach, die gesamte digitale Außenwelt! Zumindest hin und wieder.

Mittel gegen Nomophobie

Seit einigen Jahren krankt unsere Gesellschaft an einem neuen Virus, der Nomophobie. Abgeleitet aus dem Englischen („no mobile phone phobia“) bezeichnet sie die Angst, ohne Smartphone zu sein. Was als „Büro im Westentaschenformat“ begann, ist heute Alleskönner: Telefon, Kamera, Wecker, Terminkalender, Zeitung, Stereoanlage, sogar Wegweiser, Bankfiliale und Einkaufszentrum. Und darum fester Alltagsbestandteil. Nicht zu vergessen der wohlige Dopamin-Kick, den jeder Gebrauch des „Gefällt mir“-Buttons in sozialen Netzwerken als Krönung für unseren neuesten „Food porn“-Post mit sich bringt.

Laut einer globalen Studie fühlen sich gut ein Viertel der insgesamt 2.600 weltweit Befragten ohne ihr Telefon frustriert oder verloren. 85 Prozent der Befragten haben ihr Handy immer bei sich. Der durchschnittliche Iphone-Nutzer greift angeblich 80 Mal pro Tag (im Schnitt also alle zehn bis zwölf Minuten) nach seinem treuesten Begleiter. Digital Detox, der digitale Entzug, ist also geradezu ein Parade-Vorsatz für das neue Jahr, könnte man meinen.

Eine neue Marktlücke

Freiwillig den Rückwärtsgang aktivieren und sich regelmäßig zurück in die analoge Welt begeben? Das Ganze klingt weniger anspruchsvoll als vielmehr absolut unglaubwürdig. Doch wie bei allen gute Vorsätzen so ist auch dieser: gut. Ziel der Verzichtaktion soll das Wiedererlangen sinnlicher Wahrnehmung sein. Statt in den Bildschirm versunken durch den Alltag zu kommen, soll man wieder ein Gespür für den Moment, die unmittelbare Umgebung erhalten. Wer auf ein Konzert geht, soll tatsächlich da sein, Musik und Atmosphäre genießen. Aber wie soll das funktionieren, wenn alle „den Moment festhalten“ (an dem sie nicht mal richtig teilhaben) festhalten wollen und sich währenddessen doch nur an ihren Kameraersatz klammern und dabei auf die Langlebigkeit des Akkus hoffen?

Wer es alleine nicht schafft, für den naht Hilfe: Ein Wochenendseminar in den Tiefen Wäldern Kaliforniens in einem Digital Detox Camp, zum Beispiel. Wie in einem Ferienlager, abgeschnitten von der Außenwelt gilt das Motto: „Disconnect to reconnect“. Frei übersetzt: Abschalten, um sich wieder zu erden. Der treue Gefährte im rechteckigen Format wird in dieser Zeit weggeschlossen. Er gilt als kontaminiert, seine Ausstrahlung wirkt hinderlich auf den Genesungsprozess, heißt es. Internet gibt es sowieso keines. Dafür zig Workshops, Spiel, Spaß und Gleichgesinnte. Ein Entzug für schlappe 300 Dollar, umgerechnet 250 Euro.

Ernüchternde Realität

Folgt man der 2017 durchgeführten, repräsentativen Umfrage von Digitalverband Bitkom Research, so hat bereits jeder siebte befragte Internetnutzer bereits einmal versucht, eine zeitlang bewusst auf E-Mails, soziale Netzwerke, Handy und Co. zu verzichten – und ist damit gescheitert. Was nichts anderes bedeutet, als dass sich hier ein klassisches Suchtverhalten etabliert hat. Und wir reden nicht einmal von Digital Natives! Es geht um Erwachsene, die einen Teil ihrer Kindheit ohne Handy und Internet überstanden haben.

Gerade weil sie das Leben hinter dem Bildschirm genauso kennen wie das davor, sind alle ihre Interaktionen mit dem Smartphone so subtil wie reflexartig: Beim Kaffeetrinken liegt das Smartphone nicht in der Tasche, sondern auf dem Tisch, um immerhin kurz draufschielen zu können. Die Radikale Anti Smartphone Front aus Berlin verwehrt sich diesem „exzessiven Gebrauch“. Die Anhänger der selbsternannten Bewegung verteilen Flyer, die Sprüche wie „Tanzen statt Twittern“ oder „Emotion statt Emoticon“ kommunizieren, um eine Debatte über den aktuellen Umgang mit der Digitalisierung anzustreben. „Durch solche Aktionen wollen wir einfach Menschen erreichen, wir wollen analog viral gehen“, erklärte Gründer Wenzel dem Vice-Magazin.

Apps für die analoge Welt

Wenzel und Mitgründer Benno ist wichtig, dass das Pflegen des eigenen Facebook-Profils nicht über der Pflege echter Freundschaften steht. Dass sie mit ihren Botschaften einen Nerv treffen, zeigt sich deutlich an den Reaktionen, die sie ernten. „Viele fühlen sich auch provoziert. Als würde man etwas völlig Abwegiges verlangen“, lässt sich Benno zitieren.

Tanzen statt Twittern

Vielleicht ist es abwegig, sich von einem Gerät zu trennen, das auf Knopfdruck die Heizung in fernen Zuhause anschaltet, das für Unterhaltung sorgt, wenn sonst keine Gesellschaft da ist, und das sogar mihilfe entsprechender Apps unsere Gesundheit im Auge behält. Warum also nicht getrost die warnenden Stimmen überhören, die von krankhafter Abhängigkeit sprechen, gar von sozialer Isolation?

Weil diese Stimmen Recht haben. Während wir unsere virtuelle Identität inszenieren, wird unser analoges Dasein immer unnahbarer. Sich nicht ständig ablenken zu lassen durch kleine oder große Bildschirme kann eigentlich nicht so schwer sein. Ist es auch nicht! Wir müssen uns dafür nicht mal wirklich anstrengen: Immerhin gibt es auch dafür eine Abstinenz-App.

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