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„Serien sind keine unschuldigen Dokumentationen des Alltags“

Von Christina Mikalo / 18. April 2018
picture alliance/United Archives | IFTN

Medienwissenschaftler Herbert Schwaab von der Universität Regensburg erforscht seit Jahren Fernsehformate als Spiegel der Gesellschaft. Im Interview erklärt er, inwieweit Familienserien dem Alltag nahe kommen – und wo sie übertreiben oder sogar manipulieren.

Sagwas: Erfolgreiche Fernsehserien basieren oft auf Familiengeschichten. Warum?

Herbert Schwaab: Das Fernsehen hat einen häuslichen Fokus und damit eine größere Alltagsnähe als zum Beispiel das Kino. Zuschauerinnen und Zuschauer waren von Anfang an meist Familien, daher handelten auch die frühen Serien von Vätern, Müttern und Kindern. Bereits die ersten Formate des US-amerikanischen Fernsehens – die Sitcoms der späten 1940er und frühen 1950er Jahre – machten das vor: The Goldmans handelte von einer jüdischen Mutter und ihrer Verwandtschaft, The Honeymooners von einem gemütlichen Busfahrer und seiner Frau. In dieser Zeit entstanden viele Vorstädte. Dort wurde Fernsehen geschaut, um den Verlust des lebendigen Großstadtlebens zu kompensieren.

Wie stellten Fernsehmacher damals ein Familienleben dar?

In den 1950er Jahren vermittelten Familienserien eine konservative Ideologie. So wurde versucht, traditionelle Werte durchzusetzen und die im Krieg emanzipierte Frau an den Herd zurückzubringen. Wer an Sitcoms der 1950er Jahre wie Father Knows Best oder Leave It to Beaver denkt, hat ein harmonisches, dadurch aber auch ein wenig komisches Familienleben vor Augen. Endlosserien wie die täglich fortgesetzten Soap Operas porträtierten dagegen meist melodramatisch auch die negativen Seiten des Familienlebens: Ehebruch, Verrat, Depression. Ein Beispiel hierfür ist The Guiding Light.

Sieht noch Potential bei den TV-Formaten: Kritiker Herbert Schwaab. (Foto: Privat)

In Deutschland war die Unterhaltungssparte ja eher begrenzt. Wie unterschied sich das deutsche von diesem US-amerikanischen Fernsehen?

In Deutschland gab es Serienformate wie die Sitcom oder die Soap Opera nicht. Trotzdem waren die ersten Serien in den 1950er Jahren Familienserien. Die Schölermanns oder Familie Hesselbach wiesen aus ähnlichen Gründen wie ihre US-amerikanischen Pendants eine hohe Alltagsaffinität auf. Heute ist das zum Teil immer noch so. Vor allem die Unterhaltungsserien im Vorabendprogramm, die auf amerikanische und deutsche Vorbilder zurückgreifen, sind stark an das alltägliche Leben angelehnt.

Inwiefern hat sich „die deutsche Familie“ über die Jahrzehnte in der Medienwelt gewandelt?

Die Serien der 1950er Jahre zeigten eher traditionelle Familienkonstellationen mit dem Vater als Ernährer. In den 1960er und ’70er Jahren wurde das Fernsehen kritischer und hat in vielen Formaten den gesellschaftlichen Wandel thematisiert. Sehr pädagogisch und engagiert war Unser Walter – eine Serie, die von einer Familie mit einem Kind mit Down-Syndrom handelt und sich unter anderem mit der gesellschaftlichen Ausgrenzung von Behinderten befasst. Solche engagierten Serien werden heute nicht mehr gedreht. Aktuelle Familienserien befassen sich auf andere Weise mit gesellschaftlichen Veränderungen. Türkisch für Anfänger zeigt beispielsweise eine Patchworkfamilie mit multikulturellem Hintergrund.

Engagierte Serien werden heute seltener gedreht

Also ist auch die Fernsehfamilie moderner und aufgeschlossener geworden.

Insgesamt sind Familienserien immer noch relativ traditionell, haben aber heute natürlich auch emanzipierte Ehefrauen, die arbeiten gehen. Progressiver als die Gesellschaft sind die Formate nicht unbedingt geworden: Serien, die beispielsweise die Elternzeit von Müttern und Vätern thematisieren, kenne ich nicht.

Waren Fernsehfamilien früher eher ein Spiegelbild der Gesellschaft als heute?

Das Ausmaß, in dem sich die Gesellschaft in Serien widerspiegelt, bleibt eigentlich gleich. Eine Ausnahme bilden die 1970er und ’80er Jahre, in denen die öffentlich-rechtlichen Sender viel Raum für realistische, engagierte Serien ließen. Neben dem schon erwähnten Unser Walter sind hier vor allem die Werke des Regisseurs Berengar Pfahl zu nennen, an den sich heute niemand mehr erinnert.

Hierzulande kommen amerikanische Formate ziemlich gut an. Die US-Serie Modern Family scheint der westlichen Gesellschaft besonders deutlich den Spiegel vorzuhalten.

Diese Sitcom macht mit ihrer dokumentarischen Ästhetik sehr explizit, dass sie so tut, als würde sie moderne Familienverhältnisse porträtieren. Bei allem neuartigen Patchworkcharakter, den diese Serien haben, bleiben die Frauen-Figuren irritierenderweise aber dennoch oft zu Hause. Trotzdem steht Modern Family sehr stark in Kontinuität zum populären alltagsnahen US-Fernsehen und zu anderen Sitcoms. Mehr Realismus gibt es heute definitiv nicht. Das liegt auch daran, dass die Bereitschaft zu wirklichen Serienexperimenten fehlt.

Reflektieren Familienserien generell Sozialbilder, um Orientierung in der Alltagswelt zu bieten?

Auf jeden Fall sind sie keine unschuldigen Dokumentationen des Alltags, sondern stellen immer auch ein bestimmtes Bild von Alltag und Familie her und gelten daher als manipulativ. Tatsächlich zeichnen aber nur die wenigsten der heutigen Sitcoms ein geschöntes Bild der Familie. Sie zeigen auch neue Beziehungskonstellationen, Probleme in der Beziehung oder den Verfall der Familie. Auf diese Weise reflektieren sie Veränderungen.

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