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Als die Zikaden für immer verstummten

Von Julia Finster / 29. April 2025
Filmausschnitt aus "Okurimono" (Quelle: IFFF Dortmund+Köln)

In dem kanadischen Film „Okurimono“ begibt sich die Japanerin Noriko zurück nach Nagasaki, um das Haus ihrer verstorbenen Eltern auszuräumen. Dort findet sie Briefe ihrer Mutter aus der Zeit kurz nach dem Atombombenabwurf 1945. Sie rekonstruieren nicht nur ihre eigene Familiengeschichte, sondern auch die kollektive Erfahrung eines nationalen Traumas.

Es ist dunkel. Leise ist das Geräusch einer heruntergedrückten Türklinke zu hören, bevor langsam Licht in den Raum fällt und den Blick freigibt. Zu sehen ist eine Frau, die gerade in den kleinen Vorgarten eines Hauses getreten ist. Während sie nachdenklich in die Sonne schaut, hört man leise die Zikaden im Hintergrund zirpen. Es ist Sommer in ihrer Stadt, die ruhig zwischen Hügeln und grünen Bergen liegt, direkt am Meer. Dieses Panorama begleitet in wiederkehrenden Motiven den gesamten Film. Es sind Szenen, in denen nicht gesprochen wird, Szenen ohne Worte. Denn für das historische Schicksal, das diese Stadt erlebt hat und das auf ihr lastet, gibt es keine Worte.

Es ist das Schicksal der japanischen Küstenstadt Nagasaki, die Schauplatz des Dokumentarfilms „Okurimono“ der kanadischen Filmproduzentin Laurence Lévesque ist. Die Vorführung des 2024 erstmals veröffentlichten Films, mit dem Lévesque gleichzeitig ihr Debüt feiert, stellt im Rahmen des Internationalen Frauen Film Fests (IFFF) in Dortmund 2025 die Deutschlandpremiere von „Okurimono“ dar. Sie selbst ist zwar Kanadierin, doch die Regisseurin hat eine persönlichen Verbindung zur Protagonistin: Lévesque ist Norikos Schwiegertochter. Es ist also ihre eigene Familiengeschichte, der sich Lévesque in „Okurimono“ filmisch widmet.

Eine intime Reise in die Vergangenheit

Die Wahl des Filmtitels ist ein erster Hinweis auf die einzigartige und intime Annäherung an die Geschichte Nagasakis und die Erfahrungen der Zeitzeugen, die der Film beleuchtet. „Okurimono“ bedeutet übersetzt „Geschenk“. Der Zusammenhang zwischen dem kollektiven Trauma einer ganzen Nation und einem Geschenk wirkt auf den ersten Blick makaber und wenig miteinander vereinbar. Die Bedeutung dieses Wortes wird von der Protagonistin Noriko selbst aufgegriffen. Die rund 50-jährige Japanerin begibt sich nach gut 20 Jahren zurück nach Nagasaki, um das Haus ihrer verstorbenen Eltern auszuräumen. Dort findet sie unzählige Briefe, die ihre Mutter, die zum Zeitpunkt des 9. August 1945 als Krankenschwester im Universitätsklinikum in Nagasaki tätig war, von Überlebenden erhalten hat. Diese drücken ihr auf ergreifende Weise ihre Dankbarkeit dafür aus, dass sie ihre Söhne, Töchter und Freunde in ihrer Funktion als Krankenschwester im Nachgang des Atombombenabwurfs durch die Amerikaner gepflegt hat.

Für Noriko sind diese Briefe „Okurimono“, ein Geschenk. Anhand jedes einzelnen von ihnen kann sie die Geschichte und den Aufenthaltsort ihrer Mutter unmittelbar nach dem 9. August 1945 rekonstruieren. Lévesque nimmt sich Zeit, um ihre Protagonistin dabei zu zeigen, wie sie die Briefe sortiert, ordnet und liest. Es sind Szenen, in denen Noriko selbst nicht spricht und die nicht von Musik begleitet werden. Lévesque nutzt diese wortlosen Szenen, um den Zuschauer unmittelbar teilhaben zu lassen. Auch die Tatsache, dass der gesamte Film auf Japanisch ist und nur entsprechende Untertitel eingefügt sind, schafft eine vertraute, manchmal einengende Nähe zu dem, was auf der Leinwand zu sehen ist, und gibt dem Zuschauer das Gefühl, hautnah an den gezeigten, privaten Szenen dabei zu sein, ganz ohne Sprachbarriere oder deutsche Synchronisation.

Es ist die Geschichte derjenigen, die überlebt haben und sich dafür schämen, dass es gerade sie waren, die Glück hatten. Die fehlende Musik und Off-Text unterstreichen das Schweigen, das sie sich selbst jahrzehntelang auferlegt haben. „Über die Bombe zu reden, macht einen traurig“, erklärt eine Zeitzeugin im Film.

Okurimono – für den Zuschauer Geschenk und Mahnung

Beschrieben wird ein heller Blitz, heller als die Sonne, der plötzlich über Nagasaki zu sehen war und der den Himmel der Stadt schwarz gefärbt hat. Die Erinnerung daran eint die Zeitzeugen in ihrer Verzweiflung, mit der sie von herumliegenden Leichen berichten, von verstorbenen Freunden und Familienangehörigen, von zerfetzten Körpern, von Leid und von Schmerz. Und nicht zuletzt eint sie die Scham, überlebt zu haben.

Auch Norikos Mutter hat ein Leben lang geschwiegen. Es sind die Briefe Dritter, die ihren Weg, ihre persönlichen Lebensstationen nachzeichnen. Diese Überbleibsel skizzieren nicht nur Norikos eigene Familiengeschichte, sondern auch die einer Stadt und einer gesamten Nation. Sie sind nicht nur ein Geschenk der Mutter an ihre Kinder, sondern auch ein Geschenk Lévesques an den Zuschauer. In anderthalb Stunden betrachtet sie durch die überaus schlichte, unaufgeregte Kameraführung, spärliche Dialoge und wortlose Bilder die Geschichte Nagasakis durch die Perspektive der Überlebenden.

Angesichts der aktuell geführten Debatte um Aufrüstung, des zunehmenden Eskalationspotentials internationaler Konflikte und der wachsenden Sorge vor einem Atomkrieg und dem Einsatz von Nuklearwaffen kann ihr Film als Mahnung verstanden werden. Ohne laute Worte und ohne politische Parolen, sondern einzig durch die Macht der Bilder. Mit Bildern ohne Worte und der Erzählungen der Überlebenden gelingt Lévesque eine Hommage an die Opfer des Atombombenabwurfs und vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Situation an die Menschlichkeit der Zuschauer zu appellieren. Gerade jetzt.

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