Der Kalender-Zwang

Sagen Kalendertage wirklich etwas über die Intensität unseres Lebens oder die Qualität unserer Beziehungen aus? Ich bezweifle das zutiefst. Genau darum soll es in diesem Artikel gehen: Wie Daten unsere Gefühle beeinflussen.
Ein Geburtstag, ein Todestag, Muttertag, Silvester. Oberflächlich betrachtet sind dies nur Daten in unseren Kalendern. Doch diese Daten sind auch Maßeinheiten unserer Lebenszeit: Sie geben uns vor, wann wir uns alt zu fühlen haben, wie lange wir trauern dürfen, wann wir uns freuen dürfen oder wem wir zu danken schuldig sind. Sie diktieren also auch unser Empfinden, unsere Erwartungen und letztlich unser Glück.
Nehmen wir den Geburtstag. Kaum jemand entkommt dem gesellschaftlichen Druck, an einem bestimmten Alter bestimmte Meilensteine erreicht zu haben: der Schulabschluss, die erste Wohnung, Heirat, Kinder, Haus. Wer von dieser „idealen“, gesellschaftlichen Zeitlinie abweicht, fühlt sich schnell unter Druck gesetzt, manchmal sogar als Versager:in. Als ob das Leben eine Art To-do-Liste wäre, deren Stationen pünktlich abgearbeitet werden müssen. Ich als Frau Anfang dreißig kenne den gesellschaftlichen Druck, dass von mir nun Heirat, Kinder, Hausbau erwartet werden. Weil es doch „alle so machen“.
Auch unsere Feiertage sind oft ein Paradebeispiel für diesen „Jahrestage-Zwang“. Silvester, Valentinstag, Muttertag, Vatertag – sie alle sind mit der unausgesprochenen Erwartung verbunden, dass wir an diesem einen Tag bedingungslos glücklich, verliebt oder dankbar zu sein haben. Der Druck, den „perfekten“ Moment zu erleben, überschattet oft das eigentliche Gefühl. Wenn die Realität nicht mit den, zum Teil inszenierten, Bildern auf Social Media übereinstimmt, fühlen wir uns unzulänglich, obwohl die Emotion an einem beliebigen anderen Tag vielleicht viel authentischer gewesen wäre. Ganz davon abgesehen, dass Feiertage wie Muttertag oder Valentinstag Menschen, die ihre Mütter oder Partner:innen verloren haben, aus der Bahn werfen können.
Intensität wiegt mehr als das Verstreichen der Kalendertage
Besonders deutlich wird die Absurdität des Datumdiktats im Kontext von romantischen Beziehungen. „Wie lange seid ihr schon zusammen/verheiratet?“ ist oft die erste Frage, die einem gestellt wird. Als gäbe die Dauer einer Beziehung Auskunft über deren Tiefe, ihre Herausforderungen oder ihre Schönheit. Das führt zu ungeschriebenen Regeln, ab wann man zusammenziehen, heiraten oder Kinder bekommen „sollte“.
Die Reality-Serie „Love is Blind“ ist hierfür ein so provokatives wie perfektes Beispiel, das meine These untermauert: Heiraten nach zwei Monaten? Warum nicht, wenn diese zwei Menschen sich in dieser kurzen, aber intensiven Zeit besser kennengelernt haben als manche Paare in drei Jahren oberflächlicher Dating-Phasen. Die Serie zeigt, trotz all der inszenierten Dramen, dass es nicht um die Dauer einer Beziehung geht, sondern um ihre Qualität, die emotionale Offenheit und die Bereitschaft, sich wirklich aufeinander einzulassen.
Es geht um die Intensität der Gefühle, um die Tiefe der Gespräche, um das gegenseitige Verständnis – und nicht darum, wie viele Tage auf einem Kalenderblatt bereits verstrichen sind. Zwei Monate voller tiefgehender emotionaler Verbindung können unendlich viel mehr wert sein als Jahre, die von Distanz, Missverständnissen oder Routine geprägt sind.
Eines, meiner Meinung nach, der drastischsten Beispiele, wie weit Daten und Gefühle auseinanderliegen, liegt im Bereich der Trauerverarbeitung. Der Grund dafür ist vor allem, dass wir heute mit Trauer schlecht umgehen können. Wir leben in einer Gesellschaft der Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung, da passen Trauer und Tränen als Zeichen des Kontrollverlusts nicht hinein. Das zeigen die Diagnosesysteme, die psychische Krankheiten nach Symptomen ordnen und beschreiben: Demnach beträgt eine Trauerzeit, je nach Diagnosesystem, lediglich sechs bis zwölf Monate, bevor sie als Depression oder andere Störung behandelt wird. Dabei ist Trauer ein äußerst individueller und oft lebenslanger Prozess, dessen Ende sich nicht bestimmen lässt.
Ein Plädoyer für das Fühlen statt Zählen
Wir klammern uns an quantitative Aspekte, weil sie uns eine trügerische Sicherheit und Struktur in einer komplexen Welt bieten. Sie suggerieren Kontrolle über etwas, was nicht kontrollierbar ist: unsere Emotionen, unsere Beziehungen, unser Leben. Doch das Leben ist selten gradlinig und unsere Gefühle lassen sich nicht in einen Zeitplan drücken.
Wir sollten uns auf unser subjektives Empfinden verlassen. Die Art und Weise, wie wir lieben, trauern, glücklich sind oder uns entwickeln, ist so einzigartig wie wir selbst.
Vielleicht sollten wir uns weniger fragen, wie alt wir sind oder wie lange wir uns schon lieben, und mehr, wie intensiv wir leben und wie tief wir fühlen. Denn letztendlich sind es nicht die Daten im Kalender, die unser Leben ausmachen, sondern die Geschichten, die wir zwischen ihnen schreiben – die Geschichten, die unser Leben schreibt, nicht ein Datum.