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Kippe oder Skincare?

Von Jonas Bernauer / 7. Mai 2025
picture alliance / Wolfram Steinberg | Wolfram Steinberg

Zwischen Hedonismus und Selbstoptimierung: Wie das Nachdenken über Lust ebenjene zum Verschwinden bringt.

Sex ist gut für das Herz, Zungenküsse stärken die Gesichtsmuskulatur. Die Befriedigung sexueller Bedürfnisse geht also Hand in Hand mit gesundheitlichen Vorteilen. So lassen sich auch im Schlafzimmer zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Gute Nachrichten, oder?

Doch ist ein solcher Effizienzgedanke in diesem Fall nicht besonders unromantisch? Droht sogar die Lust der Selbstoptimierung zum Opfer zu fallen? Selbst im Schlafzimmer geht es mittlerweile um Effizienz – so suggerieren es zumindest diverse Ratgeber.

Es ist diese Beobachtung, die den Philosophen Slavoj Žižek ein drastisches Urteil fällen lässt: Raucher*innen und Drogenkonsument*innen sind die einzig wahren Hedonist*innen. Entgegen der Behauptung konservativer Kritiker*innen, so Žižek zufolge, sei unser Zeitalter allerdings ohnehin keineswegs hedonistisch geprägt.

Selbst der Schlaf ist zur Optimierungszone geworden

Ein Blick in die sozialen Medien scheint dies zu bestätigen: Unternehmer*innen preisen hier Routinen an, die den Schlüssel ihres Erfolgs darstellen sollen. Sie lehren, dass produktive Tage um 5:00 Uhr mit Gesichtspflege und Nahrungsergänzungsmitteln starten. Bevor die Arbeit an der eigenen Selbstständigkeit beginnt, geht es ins Fitnessstudio. Nach einem erfolgreichen Arbeitstag gilt es, Kilometer abzuspulen. Ob beim Marathon-Training oder auf dem Rennrad ist letztlich egal. Leistungssteigernde Pulver, Pillen und Programme gibt es zum Glück für beide Disziplinen gleichermaßen. Unter dem Vorwand der Achtsamkeit und der Reflexion werden abends die eigenen Ziele und das richtige Mindset beim Journaling, eine spezielle Form des Tagebuch schreibens, manifestiert. Ins Bett geht es erst nach abgeschlossener Gesichtspflege und mit Pflaster auf dem Mund, das die Atmung während des Schlafens verbessern und Schnarchen verhindern soll. Selbst der Schlaf – eigentlich ein Ort der Passivität – ist zur Optimierungszone geworden, die es zu kontrollieren gilt.

Die Pflaster-Methode, die der Mundatmung ein Ende setzt, nennt sich übrigens Mouth Tapingund dürfte meiner Meinung nach von so manchen Influencer*innen gerne auch bei Tag praktiziert werden. Da tagsüber aber zumeist munter in die Kamera gefaselt wird, entwickelt sich der Selbstoptimierungswahn immer mehr zum sozialen Imperativ. Keine Sekunde darf ungenutzt bleiben. Essen, das nicht dem Muskelaufbau dient, ist eine Sünde; Sex ohne Ziel Zeitverschwendung – ganz nach dem Motto: Müßiggang ist aller Laster Anfang. Doch versteckt sich die Lust nicht allzu oft im Laster? Ginge es nach Žižek würde er doch sagen, dass negative Folgen der Lust billigend in Kauf genommen werden müssen, um ihr gerecht zu werden. Durch den Effizienzgedanken wird die Lust ihrer Leidenschaft beraubt. Lust will gelebt, nicht durchdacht werden.

Kommst du noch zum Späti?

Im Alltag fällt das allerdings oftmals nicht so leicht – mir zumindest nicht. Meine Tage starten ohne Kippe oder Skincare. Das Denken wird mir also weder durch Suchtdruck noch durch eine Routine abgenommen. Und so denke ich oft darüber nach, was ich tun soll. Gerade abends. Besonders wenn folgende Nachricht auf meinem Handy erscheint: „Kommst du noch zum Späti?“

Natürlich komme ich. Andererseits muss ich morgen früh raus, wollte unter der Woche eigentlich kein Bier mehr trinken und überhaupt. Ich ertappe mich beim Abwägen. Ich weiß, dass ich Lust habe, rauszugehen. Warum zögere ich? Außerdem tut es mir gut, meine Freund*innen zu treffen, an der frischen Luft zu sein.

Hier hätte jede Instagram-Routine meine Überlegungen schon längst unterbunden – um 21:00 Uhr steht Journaling an! Und der verrückte, sehr eigene slowenische Philosoph würde wohl genau jetzt intervenieren. Wenn Žižek sagt: „Habt keinen Sex, nur weil es euer Herz stärkt!“ Aber auch: „Trefft euch nicht mit Freunden, nur weil ihr wisst, dass euch soziale Kontakte guttun.“ Und ich will ihm recht geben: Am liebsten würde ich meine Schlüssel greifen, aus der Tür stürmen, mich aufs Fahrrad setzen und zum Späti fahren. Dort meine Leute mit Umarmung begrüßen und in der kühlen Abendluft Bier trinken.

Stattdessen wäge ich so lange ab, bis ich keine Lust mehr habe zu gehen. Ich habe mir meine Lust zerdacht. Weil ich das nicht hinnehmen will, setze ich mich schließlich doch in die Bahn und fahre leicht bockig in die Stadt. Ein Gefühl, das manchmal bis zum ersten Bier oder der ersten Zigarette anhalten kann, aber auch an nüchternen Abenden immer verfliegt.

Liege ich später dann im Bett – immer ohne Pflaster auf dem Mund, aber doch zumeist mit geputzten Zähnen –, denke ich mir oft: Ich habe keine Lust mehr. Keine Lust mehr auf das Nachdenken über die Lust. Ploppt die Nachricht „Kommst du noch zum Späti?“ an einem anderen Abend auf meinem Bildschirm auf, überlege ich natürlich wieder. Vielleicht ist das der Grund, warum ich keine harten Drogen nehme und zumindest nicht Kette rauche.

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