Musik als Ventil

Kaum ein Genre hat sich seit seiner Entstehung so gewandelt wie der Hip-Hop. Zwar dreht sich auch heute noch vieles um soziale Missstände – aber der Ton ist ein anderer.
Los Angeles am 19. November 2022: Mitten auf dem Hollywood Boulevard stehen sich seit sechs Uhr morgens über eintausend Menschen vor dem Fonda Theatre die Füße platt. Sie alle warten darauf, am Abend zum allerletzten Mal sieben junge Männer Mitte 20 auf der Bühne zu sehen. Sie sind Teil der “besten Boyband seit One Direction”, wie sie sich selbstironisch stilisieren. Ihr Name: Brockhampton.
Als die Spotlights angehen und sich der Saal langsam füllt, schwankt die Stimmung zwischen Ekstase und Abschiedsmelancholie. Es soll eine historische Vorstellung werden. Denn das, was sich in diesem Moment abspielt, ist gewissermaßen der Höhepunkt einer Bewegung, an dessen Speerspitze das insgesamt 13-köpfige Hip-Hop-Kollektiv aus Texas stand. Ihr Ziel: Aus der Wut und Angst einer ganzen Generation Kraft zu schöpfen.
Zentral im Hip-Hop war immer die soziale Frage
Doch fangen wir am Anfang an. Als in den frühen 1970er-Jahren in der New Yorker Bronx der Hip-Hop von Visionären wie DJ Kool Herc und Afrika Bambaataa aus der Taufe gehoben wird, ist die soziale Frage allgegenwärtig. Viele der Künstler kommen aus Ghettos, in denen Armut, Verbrechen, Gewalt und Drogen zum Alltag gehören. Ein weiterer Rap-Pionier, Grandmaster Flash, macht zusammen mit seinen Furious Five im legendären Track “The Message” auf genau diese Probleme aufmerksam: “It’s like a jungle sometimes // It makes me wonder how I keep from going under”, so die weltbekannte Textzeile über der musikalischen Hook. Am Ende der siebenminütigen Milieustudie werden die Furious Five scheinbar grundlos von der Polizei festgenommen – Alltag in der Bronx.
Eben jene ständige Angst vor der Gewalt und dem Rassismus der Autoritäten wird zu einem der Fokuspunkte des Hip-Hops der 80er- und 90er-Jahre. “Fight the Power” lautete der Titel eines Public-Enemy-Songs der durch den Kultfilm “Do the Right Thing“ von Spike Lee berühmte wurde. Währenddessen etablierte sich mit dem Gangsta-Rap ein ganzes Genre, das diese Wut auf seine eigene Weise kanalisieren sollte. An der kalifornischen Westküste waren es vor allem Ice-T, N.W.A und Snoop Dogg, die emblematisch für einen Lifestyle stehen, der zwischen Hedonismus und ständiger Gefahr oszilliert. Es ist eben jenes Bild von Rap als Vehikel für Kriminalität und Gewaltfantasien, das sich bei vielen Außenstehenden eingebrannt hat.
Doch in Wirklichkeit trieben die Gangster-Rapper von damals nur auf ihre Art genau die gleiche soziale Frage auf die Spitze, die schon Grandmaster Flash umtrieb: Sie nutzten ihre Musik, um aus dem Teufelskreis von Verarmung, Gewalt, Drogen und Rassismus auszubrechen – oder um ihm zumindest einen Namen zu geben. Im damaligen sogenannten “Goldenen Zeitalter des Hip-Hop” war das jedoch nur eine der vielen Stilrichtungen, die dem Genre im Mainstream zum Durchbruch verhalfen. Genau diese Vielfalt war es dann auch, die neue Wege eröffnen sollte, um die angestaute Wut musikalisch zu verarbeiten.
Heartbreaks und Sad Boys
Seit seiner Entstehung bedient sich Hip-Hop verschiedenster musikalischer Strömungen und beeinflusst auch wechselseitig andere Genres. So gilt die Zusammenarbeit zwischen Run-DMC und Aerosmith in den 80ern als erste erfolgreiche Synthese von Hip-Hop und Hard Rock. Neben seinen tiefen Wurzeln in afroamerikanischen, lateinamerikanischen und karibischen Musiktraditionen von Soul über Blues bis Disco ist aber vor allem ein früher Einfluss bemerkenswert, der nicht zuletzt aus Deutschland kam.
Als Afrika Bambaataa 1982 mit dem Song “Planet Rock” die futuristischen Elektroklänge von Kraftwerk sampelte, legt er den Grundstein für einen Stilwechsel im Hip-Hop, der bis heute anhält. Denn der Drumcomputer Roland TR-808, den er damals für seine Beats verwendete, sollte 2008 Kanye West zu einem ganzen Album dienen. “808s & Heartbreak“ war Wests musikalische Verarbeitung des Todes seiner Mutter Donda und der Trennung von seiner Verlobten. Das Genre des Emo Rap war geboren.
Weitergetragen wurde es in den 2010ern durch Künstler wie Lil Peep, Juice Wrld und XXXTentacion. Auch das schwedische Kollektiv Sad Boys um Cloud-Rapper Yung Lean gehört dazu. Wabernde Elektrobeats und um Depressionen und Melancholie kreisende Texte prägten ihr Schaffen. Viele der Künstler kämpften mit Drogenproblemen. Die anhaltende Anziehungskraft dieser Musik speist sich nicht zuletzt auch aus der Tragik ihrer Protagonisten.
Wenn aus Wut Hoffnung wird
Doch die direkten spirituellen Nachfolger dieser Ära sind eben jene 13 Jungs mit dem Namen Brockhampton. Allein schon, weil sich ein Großteil von ihnen noch zu Schulzeiten über ein Onlineforum für Kanye-West-Fans kennenlernte. Aus der gemeinsamen Liebe für innovativen Hip-Hop und viel angestauter jugendlicher Energie entwickelten die Teenager ein Kollektiv, das vom Texten über das Rappen bis hin zur Produktion und dem Merchandise alles selbst machte.
Innerhalb von sechs Jahren veröffentlichte die Band ein Mixtape, zog nach Los Angeles und releaste dort acht weitere Alben. Das Besondere: Dadurch, dass die sieben Vokalisten in ständig unterschiedlichen Kombinationen auf Songs auftauchen, verwoben sich ihre Geschichten für die Zuhörer*innen miteinander. Da wäre JOBA, der in “Tokyo” im Angesicht einer verflossenen Beziehung von Reue zerfressen wird und sich in die Arbeit stürzt, da die Miete ja trotzdem fällig ist. Oder Merlyn Wood, der auf “Milk” erzählt, wie er gerade Lebensmittelmarken beantragt hat und der Uni den Rücken kehrte, als er merkte, dass er der einzige Afroamerikaner am Campus war. Oder der Frust von Frontmann Kevin Abstract auf “Junky”, dass er sich als schwuler Rapper heutzutage immer noch rechtfertigen muss. Schon die Songtitel, die nahezu allesamt in Sperrschrift verfasst sind, zeigen: Da muss ordentlich was raus.
Und so ist es auch wenig verwunderlich, dass eines der letzten beiden Alben, die Brockhampton kurz vor der Show im Fonda Theatre parallel veröffentlichten, “The Family” hieß. Einerseits gibt es da die musikalische Wahlverwandtschaft unter den Mitgliedern. Andererseits sind die Fans selbst aber auch zu einer Community geworden, die mit dem raschen Aufstieg und bittersüßen Ende der Gruppe aufwuchs – und die das Gefühl hatte, sie auch in ihrer Verletzlichkeit zu kennen. So wirkt der finale Auftritt, in dem die Bandmitglieder immer wieder auf der Bühne verschnaufen und in den Dialog gehen, fast wie eine letzte Gruppentherapie-Session, bevor es in die weite Welt hinausgeht. Mit etwas weniger Wut, aber dafür deutlich mehr gegenseitigem Verständnis.