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SPURENFUNDE

Von Melike Berfê Çınar / 7. Juni 2021
picture alliance / Zoonar | benis arapovic

Wie wenig wir voneinander wissen. Wissen wollen, wissen können? Die Berlinerin Melike Berfê Çınar bewegen diese Fragen heute mehr denn je.

Als Kind habe ich lange gedacht, es wäre eine verdammt coole Superpower, unsichtbar sein zu können. Bis ich gemerkt habe, wie schmerzhaft unsichtbar sein zu müssen ist. Und wie gefährlich Sichtbarsein zuweilen sein kann.

Messerscharfe Sichtbarkeit wie die Markierung als das Andere hat die heimelige Hülle meiner kindlichen Welt durchstochen und aufgeschlitzt. Als Kind dachte ich, es wäre möglich, zu allen freundlich zu sein, alle anzulachen, sich empathisch mit allen zu verhalten und „Nicht hauen!“ und „Teilen!“ würde für alle gelten, nicht nur für Kindergartenkinder. Ich dachte, es wäre zumindest denkbar, alle zu lieben. Wann ich eines Besseren belehrt wurde, vermag ich nicht mehr zu sagen. Was aber ganz sicher ist: Dass „Nicht hauen!“ und „Teilen!“ nicht für alle gilt, habe ich mittlerweile verstanden.

Ich war also, sagen wir, mit wenigen, verwirrenden Ausnahmen, ein ganz normales Kind gewesen: Ich fühlte mich sicher und geliebt und die Welt war da, um erkundet zu werden und in ihr zu spielen, Lieder zu singen und an der Hand der Kita-Kumpels in ihr umherzuspazieren. So wie damals, als ich vier Jahre alt war und auf den Schultern meines Vaters saß. Wir gingen mit meiner Mutter durch den langen Verbindungsgang am Bahnhof „Hallesches Tor“. Ich war fasziniert von dieser unterirdischen Welt und der Tatsache, dass ich der Decke sehr nah war, auf den Schultern meines Vaters. Ich schaute und staunte und traute der Welt um mich herum viel Gutes zu. Dann aber änderte sich etwas. In der Atmosphäre. Im Ton meiner Eltern. In der Körperspannung meines Vaters. In seiner Bewegung. Und ich hörte, wie meine Mutter sagte: „Oh nein, wo wollen die denn hin?“ Ich fragte: „Was ist denn los? Was ist passiert?“ Und bekam die Antwort: „Das waren Nazis.“ Ich war besorgt und fragte weiter: „Was sind Nazis?“ – „Die hauen Menschen, weil sie Ausländer sind“, antwortete meine Mutter. Und das war der Moment, in dem die Angst Einzug hielt in meine Kinderwelt. In meine Kinderseele. Ich wusste, mein Vater ist Ausländer. Seine Freund:innen sind Ausländer. Und ich? Bin ich Ausländer? Was ist das überhaupt, „Ausländer“?

Unsichtbarkeit hat eine lange Tradition, auch hierzulande. Kinder soll man sehen, aber nicht hören. Doch bleibst du wirklich sichtbar, wenn dir deine Stimme genommen wird? Unsichtbarkeit nimmt seltsame Ausmaße an. Kann es denn wirklich unbemerkt bleiben, unsichtbar sein, wenn ein Kind misshandelt wird? Hunger hat? Machen solche Erfahrungen ein Kind nicht erst recht sichtbar? Ich habe eine Freundin, die ganz alleine zu ihrer eigenen Einschulung gegangen ist. Weil ihre Mutter nicht aufstand. Ein Kind geht alleine zu seiner eigenen Einschulung, weil die Mutter nicht aus dem Bett aufsteht und es sonst niemanden gibt. Aber das wollte niemand sehen.

Was auch nicht sichtbar ist: dass wir vor lauter Stolpersteinen nie mehr würden gehen können, würden sie all die Orte anzeigen, an denen Menschen beschimpft, bedroht, gedemütigt, konzentriert, deportiert, erschlagen, verfolgt, bespuckt, erstochen und verlacht worden sind und noch heute werden.

Sichtbarkeit kann auch zerstört werden. In den 1930er Jahren zum Beispiel. Queeres Leben zum Beispiel. Neben der offenen Verfolgung kann auch das Drängen in die Unsichtbarkeit, das Zerschlagen von Netzwerken, das Entfernen aus den Augen der Gesellschaft Vernichtung bedeuten. Dass etwas Erlebtes in der Zukunft vergangen und scheinbar unsichtbar sein wird, bedeutet nicht, dass es seine Wirkung verloren haben wird. Im Gegenteil. Es bedeutet vielmehr, dass es noch lange, sehr lange vererbt werden kann. Heute zum Beispiel, wenn ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma, das Sichtbarkeit schafft, bedroht ist und in die Unsichtbarkeit verschwinden soll. Zugunsten einer geplanten Bahntrasse, wie kürzlich unterhalb des Tiergartens.

Auch bedeutet Sichtbarkeit in manchen Fällen eine Gefährdung: von Strukturen aufgefressen werden, auf der Straße attackiert werden, zu Hause angegriffen werden. Familie ist für manche Menschen der sichere Hafen, für andere eine Quelle der Gefahr. Und was immer verdammt sichtbar ist: die Faust auf dem Weg in dein Gesicht. Nach einem Kuss in der Tram. Oder wegen der Sprache, die du sprichst. Oder wegen des Aufnähers auf deiner Jacke.

Was sichtbar ist: Das Formular. Was unsichtbar ist: meine Familie, mein Kind, ich. Wenn in einem Formular in Deutschland, das Kinder betrifft, nach „Vater“ und „Mutter“ gefragt wird. Nicht nach zwei Vätern. Oder zwei Müttern. Oder gar drei. Dann darf ein Kind plötzlich nur noch einen Elternteil haben. Mutter oder Vater. Auch wenn es doch ganz wirklich drei Menschen hat, die auf Dauer Zuwendung schenken, Verantwortung übernehmen und bedingungslos da sind für dieses Kind. Dass diese Praktik sogar juristisch für unzulässig erklärt wurde und Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität mitgedacht werden müssen, scheint an entscheidender Stelle noch nicht angekommen zu sein. Dann bleibt nur: die strukturelle Einschränkung durchstreichen und selber per Hand die zutreffende familiäre Zusammensetzung hinschreiben. Das sorgt dann wenigstens dafür, dass die behördlich verordnete Unsichtbarkeit sich Sichtbarkeit verschafft.

Nicht nur darum ist es so wichtig, sich mit Unsichtbarkeiten auseinanderzusetzen. Und offenzulegen, welcher Logik sie folgen und welche Wirkung sie zuweilen entfalten. Niemand sollte unsichtbar sein müssen, sich verstecken müssen wegen der eigenen Identität. Und schon gar nicht sollte irgendjemand Gefahr laufen, aufgrund von Sichtbarkeit angegriffen zu werden.

Aber oft haben wir Sichtbarkeit auch gar nicht so gerne, oder? Wenn sich meist unsichtbare Wunden doch sichtbar machen, indem Menschen sich selbst verletzen, sich Schnittwunden zufügen, Drogen nehmen, auf der Straße leben, weiteres unerwünschtes Verhalten zeigen, wenn sie ihr Leben beenden, wenn sie in der Öffentlichkeit Unmut, Wut, Verzweiflung zeigen, das gefällt doch nicht.

Da bevorzugen wir Unsichtbarkeit oftmals. Diesen Auseinandersetzungen aber werden wir uns stellen müssen, wenn wir unsere demokratischen Ansprüche ernst nehmen wollen.

Oder sollen die Schnitte nur in den Seelen bleiben? Damit ihr es nicht so schwer habt?

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