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Ein Stück Familie

Von Lisa Brüßler / 5. April 2018
picture alliance / SZ Photo | Alessandra Schellnegger

In einer WG leben bedeutet mehr als nur zusammen wohnen. Eine WG ist oft auch Familienersatz. Erst recht, wenn man noch nie eine Familie hatte. Ronja Buggel arbeitet in Athen daran, die erste inklusive Wohngemeinschaft zu gründen.

Es riecht nach Urin als Ronja Buggel das Gitter von Paraskevis Bett öffnet und die 15-Jährige begrüßt. „Zouzounaki mou“, sagt Ronja mit sanfter Stimme, „ti kaneis simera?“ –„Wie geht es dir heute, meine kleine Honigbiene?“ Paraskevi kann nicht mit Worten antworten, aber sie lacht. So sehr, dass ihr Gesicht fast verkrampft. Sie freut sich, dass Ronja sie kitzelt, ihr liebevoll einen Kuss auf die Stirn drückt. Die Vorhänge in dem Zimmer mit den acht Betten sind zugezogen. Alle Kinder haben zentimeterkurz geschnittene Haare. „So sind sie geschlechtslos, das ist gewollt“, erklärt Ronja. Außerdem ist es praktisch: Pflege und Versorgung ist hier Fließbandarbeit.

Meeresluft und Bewegungsfreiheit gibt es nur begrenzt. (Foto: Lisa Brüßler)

Im Nebenraum der Einrichtung unterhalten sich die anderen Pfleger. Anders als Ronja tragen sie Uniform, wenn sie die Kinder füttern, waschen und ihnen Medikamente geben. Das ist ihre Arbeit im staatlichen Rehabilitation Center for Disabled Children of Attica (PIKPA). Es liegt im reichen Süden Athens mit all seinen Cafés und Strandclubs. Dort, zwischen den beiden bekannten Vororten Voula und Glyfada, wirkt das marode Gebäude wie eine Insel. Eine eigene Welt mit Schule, Wäscherei, Strandzugang – aber eben auch mit einem hohen Zaun. Viele Stadtbewohner wissen gar nicht, dass es die Kinder hier gibt.

Normalität als Highlight

Dutzende Babys, Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Beeinträchtigungen leben hier. Die meisten von ihnen wurden von ihren Eltern weggegeben. Kaum jemand hat Kontakt zu ihnen. Schule, Physiotherapie, Essen – es gibt eine tägliche Routine, die durch soziale Aktivitäten der in der Einrichtung angesiedelten NGO Tandem ergänzt wird. Ein Highlight für viele Kinder: mal zusammen kochen, Musik machen, vorgelesen zu bekommen. Erst seit 2013 gibt es das Aktivitätenzentrum ermöglicht durch eine Spende der Spielzeugfirma Matell und als Ergebnis eines Kampfs gegen die Einrichtung selbst, die nur widerwillig eine Räumlichkeit dafür zur Verfügung stellte.

Spielen, nicht einfach nur abfertigen. (Foto: Lisa Brüßler)

Als Ronja, gerade mal 18, im Jahr 2011 bei Tandem ihren Europäischen Freiwilligendienst in PIKPA ableistete, bekam sie mit, wie von einem Tag auf den anderen junge Bewohner altersbedingt in eine andere Institution wechseln mussten. „Mir ist erst später bewusst geworden, wie gewaltig ein solcher Wechsel sein muss – sie kannten ja oft gar nichts Anderes“, erinnert sie sich.

Inklusives Leben in Griechenland

Nach ihrem Freiwilligendienst in Athen studierte Ronja Rehabilitationspädagogik in Berlin. Aber auch dort ließ PIKPA sie nicht los. „Solange die Menschen weiter in Großheimen wohnen, wird die Mehrheitsbevölkerung nicht belästigt mit dem Thema Inklusion“, sagt sie. Im Alltag sichtbar sind Menschen mit Behinderungen in Griechenland sowieso kaum: 30 Zentimeter hohe Bordsteine, funktionsuntüchtige Fahrstühle, fehlende Rampen. Die Liste an Hindernissen ist lang. Ronja will ein neues Bewusstsein schaffen mit dem ersten inklusiven Wohnprojekt Griechenlands. Ein Stück Familie, Teilhabe und Verlässlichkeit gewährleisten.

In einer barrierefreien Wohnung im Zentrum Athens sollen ab 2019 drei Jugendliche aus der Institution mit drei jungen Menschen ohne Behinderung und mit Ronjas Unterstützung zusammenleben. Einziehen sollen Jugendliche, die etwa 20 Jahre alt sind. Für eine WG-Kommunikation auf Augenhöhe dürfen die drei Bewohner mit Behinderungen allerdings keine größeren intellektuellen Einschränkungen haben, müssen sich relativ autonom bewegen können und einander sympathisch finden. Niemand soll zu etwas gezwungen werden.

Neue Formen des Zusammenlebens

Mit der griechischen Organisation i-living, die sich für eine persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung einsetzt, entstand eine Kooperation. Sie wollen den Bewohnern helfen, selbstständig Antworten auf alltägliche Fragen zu finden: Wie bewege ich mich in der Stadt mit dem Rollstuhl? Wo können Probleme beim Zusammenleben auftauchen? Oder aber: Wie gehe ich mit Geld um?

Der Kontakt mit deutschen Vereinen gestaltet sich einfacher: „Ich habe in Reutlingen eine inklusive WG besucht und mich daran erinnert, dass die Idee auch in Deutschland erst vor etwa 25 Jahren von Rudi Sack von Gemeinsam Leben Lernen ins Leben gerufen wurde“, erzählt Ronja. Mittlerweile ist ein Konzept daraus entstanden und es existieren etwa dreißig Wohnungen in ganz Deutschland. Auch zur Plattform wohnsinn.org, die alle inklusiven WGs vernetzt, hat sie guten Kontakt. Tobias Polsfuß, der die Plattform aufgebaut hat, und Ronja haben zusammen in PIKPA ihren Freiwilligendienst absolviert.

Was ist schon normal?

Aber nicht nur für die Bewohner wird die inklusive WG eine Bereicherung sein, glaubt Ronja. Auch für die Nachbarschaft ist sie eine Chance, über Normalität und Barrieren nachzudenken. Noch erntet sie eher Kritik für ihre Idee. „Die Menschen und auch die Behörden können sich ein solches Konzept nicht vorstellen, weil sie es für fahrlässig halten. Betreuung wird hier vor allem medizinisch verstanden“, erklärt Ronja. „Das hat mich aber nicht demotiviert, sondern eher bestärkt darin, das zu provozieren. Wenn diese Organisationen nicht an Inklusion glauben und ein solches Projekt nicht riskieren wollen, wenn das kein Ziel ihrer Arbeit ist, dann wird sich nie etwas ändern.“

Um die WG bald Wirklichkeit werden zu lassen, gründen Ronja und ein paar griechische Mitstreiter gerade eine NGO, damit sie sich einfacher um Stipendien und Fördermittel bewerben können. Falls nötig, auch mit juristischer Unterstützung. „Wenn es die inklusive WG erstmal gibt und die Bewohner auf ihr Selbstbestimmungsrecht pochen, fehlt dem Gericht die Grundlage, solch eine Wohnform zu verbieten“, ist die 25-Jährige überzeugt.

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