Gemeinschaft auf Kubanisch
Gemeinschaft ist ein weiter Begriff, der in unserer Gesellschaft eine große Rolle spielt und über dessen Bedeutung kontrovers diskutiert wird. Auf Kuba wird Gemeinschaft besonders groß geschrieben.
Viele Umsturzbestrebungen prägen das Kuba von heute, allen voran die Bemühungen des Nationalhelden José Martí und die siegreiche Revolution durch Fidel Castro und Che Guevara. Die Revolutionäre wollten das Land vom Kolonialismus befreien und in die Unabhängigkeit führen – es sollte unabhängig sein von den Vereinigten Staaten, der Mafia und zuvor Spanien. Überbleibsel der Revolution – wie Castros Yacht „Granma“, mit der er beim zweiten Revolutionsversuch Kuba ansteuerte sowie Zeitungen und Plakate vom Tag der Revolution selbst – sind im Revolutionsmuseum in Havanna zu sehen und geben Zeugnis von einer Zeit, die das Gemeinschaftsgefühl der Kubaner enorm stärkte.
Das Selbstbild der Revolutionäre – es ist immer auch Propaganda. Es kommt nicht von ungefähr, dass Castro, der bei der Revolution stets verkündete, kein Regierungsamt anzustreben, letztlich mit mehr als 50 Jahren an der Macht der am längsten amtierende Herrscher des 20. Jahrhunderts wurde. Spricht man heute mit älteren Kubanern, wird deutlich, dass es viele Repressalien gegenüber Dissidenten gab. Dennoch ist ein so langer Machterhalt auch durch das von Castro zelebrierte Gemeinschaftsgefühl bedingt.
Als die Welt am Abgrund stand
Besonders stark war das Gefühl von „unsere Gemeinschaft gegen den Rest der Welt“ während der Kuba-Krise in den 1960er Jahren. Am Fuße des Hotel National Havanna, in dem in den 1950er Jahren die im Film-Epos „Der Pate“ adaptierten Mafia-Bosse abstiegen, liegt ein Relikt aus dieser Zeit. In einem unterirdischen Bunkersystem hält heute nach wie vor der mehr als 90 Jahre alte Veteran Raul Rodriguez symbolisch Wache. „Damals stand die Welt am Abgrund – der dritte Weltkrieg stand bevor. Schließlich hatte Fidel als Reaktion auf die andauernden Mordversuche der CIA den Sowjets erlaubt, Mittelstreckenraketen bei unseren Jungs aufzustellen“, erinnert sich Rodriguez. „Das sahen die Amis nicht gerne.“ Zum Glück habe der damalige Präsident John F. Kennedy das noch geregelt.
„Damals bedeutete Gemeinschaft auf Kuba vor allem das Zusammenrücken gegen die Vereinigten Staaten“, so Rodriguez. „Heute, Jahrzehnte später, ist Papst Franziskus zu Besuch bei uns. Er hat mit für die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu den USA gesorgt.“ Die nahe US-Botschaft steht wie eine Trutzburg am Meer – einst hatte die kubanische Regierung sie aus Trotz mit einem Meer aus schwarzen Flaggen versehen.
„Mehr Sozialismus wagen“
Erst durch die andauernden Mordversuche der CIA und die Kuba-Krise habe sich Castro für eine Ideologisierung der Revolution entschieden, erklärt Bernd Rother, Historiker der Berliner Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. „Durch die andauernden Angriffe der USA wurde Kuba in die Hände der Sowjets getrieben.“
Dies sei auch Willy Brandt bewusst gewesen. „Brandt wollte verhindern, dass sowas nochmal passiert und setzte in seinen 16 Jahren als Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen daher alles daran, Schwellenländer in den demokratischen Sozialismus und die Sozialdemokratie zu führen“, so Rother.
Auch heute, ein halbes Jahrhundert später, bemüht sich der aktuelle SPD-Vorsitzende um die Karibik-Insel. Sigmar Gabriel reiste im Januar 2016 nach Havanna, um mit den Kubanern über wirtschaftliche Zusammenarbeit zu reden. Gabriel fand klare Worte: „Wir dürfen nicht zulassen, dass das Land wieder zu einer Art Kolonie der USA wird.“
Der SPD-Nachwuchs, die Jusos, wünschen sich unterdessen, dass der Kuba-Besuch Gabriels nicht nur dazu führt, dass der kubanische Staat wichtige marktwirtschaftliche Impulse bekommt. Umgekehrt soll Gabriel einige soziale Impulse Kubas für seine Partei mitnehmen. Schließlich hat die SPD den demokratischen Sozialismus zwar noch in ihrem Grundsatzprogramm, de facto hat sie sich aber davon entfernt.
Immerhin war es Gabriel, der dafür sorgte, dass die SPD seit 2013 ihre Mitgliedschaft in der angeschlagenen Sozialistischen Internationalen ruhen lässt, was diese endgültig in die Bedeutungslosigkeit versinken ließ. Auf dem vergangenen Juso-Bundeskongress war in Anlehnung an Willy Brandt zu hören: „Mehr Sozialismus wagen.“
Trotz Probleme wie der schlechten Wirtschafts- und Haushaltslage, die am maroden Zustand vieler Gebäude und Fahrzeuge auf Kuba offenbar wird, hat sich der Inselstaat ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl bewahren können. In ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen sind zudem die äußerst guten Sozial-, Gesundheits- und Bildungssysteme.
Studierende werden an den Universitäten Kubas, verglichen mit anderen Ländern Zentral- und Südamerikas, gut ausgebildet – mangels Alternativen arbeiten trotzdem viele Akademiker im Taxigewerbe.
Heimatgefühle versus Fernweh
Viele junge Kubaner kennen nichts anderes als die Insel, waren nie weg. „Ich bin Fidel und seinen Leuten sehr dankbar dafür, dass er unsere Heimat befreit und aufgebaut hat. Ein gutes Gesundheits- und Bildungssystem, das sind große Errungenschaften des Sozialismus“, sagt die junge Wirtschaftsingenieurin Iresis.
Dennoch sieht sie in ihrem Zuhause keine Perspektive. „Wenn ich könnte, würde ich in die USA auswandern.“ Genauso sieht es der Naturwissenschaftsstudent Darwin: „Klar, das Gemeinschaftsgefühl hier ist sehr stark, aber wenn ich könnte, würde auch ich in die USA gehen.“
Ohne Gemeinschaft kann der Sozialismus nicht existieren. Dabei schreibt die kubanische Kultur das Gemeinsame ohnehin groß: In der Stadt besteht kein Unterschied zwischen Straße und Wohnzimmer, Privatsphäre ist als Konstrukt bei Weitem nicht so ausgeprägt wie in den individualisierten Gesellschaften Mittel- und Nordeuropas.
In den Straßen Havannas verschwimmen in den lauen Sommernächten die Grenzen zwischen Familien, sogar zwischen Einheimischen und Touristen – spätestens, wenn bei einem Mojito Salsa getanzt wird. Einen weiteren Beitrag zur Gemeinschaft liefert die Inszenierung durch die Propaganda-Maschinerie mit ihren zahlreichen Plakaten, Paraden und Denkmälern. Diese hilft wohl auch, über eine nicht funktionierende Planwirtschaft und andere Mängel hinwegzutäuschen.