Leben in Utopia
25 Jahre nach Zusammenbruch der kommunistischen Sowjetunion scheint der Kapitalismus als einzig verbleibende Ordnung gesiegt zu haben. Doch es gibt sie noch, die Idealisten: Menschen, die an eine Utopie glauben. Einige davon leben in der dänischen Freistadt Christiania.
Die Freistadt Christiania in Kopenhagen ist seit 1971 Zufluchtsort vieler Menschen, die sich nach einer besseren Welt sehnen. Beim Betreten der anarchistischen Kommune fallen die künstlerisch gestalteten ehemaligen Kasernengebäude auf, in denen derzeit gut 1.000 Menschen leben.
Viele Menschen projizieren ihre Hoffnungen auf die Freistadt. „Wo haben eure Spinnereien denn mal geklappt?“, bekommen Anarchisten oft zu hören. Kurz in Katalonien und der Pariser Kommune und langfristig in Christiania, sagen sie dann. In Christiania herrscht nicht der Staat, es gelten lediglich einige Regeln. Schließlich bedeutet Anarchismus nicht die Abwesenheit von Ordnung, sondern von Herrschaft.
„Keine Macht für niemanden!“
Die Ideologie dahinter geht vor allem auf Michail Bakunin zurück, einen Freund und späteren Gegner von Karl Marx. Beide waren sich einig, dass Kapitalismus bekämpft werden müsse und hatten ein auf Hegel zurückgehendes, deterministisches und durch den historischen Materialismus lineares Geschichtsverständnis.
Für die Beschleunigung dieses Prozesses wollte Marx den Sozialismus und Kommunismus durch die Diktatur des Proletariats erzwingen. Als letzte Emanzipationsstufe würde in der klassenlosen Gesellschaft automatisch Anarchie einsetzen. Bakunin wollte die Anarchie ohne Zwischenstufen. Die angestrebte „libertäre“ Gesellschaft sollte eine Synthese individueller Freiheit des Liberalismus und kollektiver Verantwortung des Sozialismus sein. Die Parole dazu lautet wie das Album der Band Ton, Steine, Scherben, die im vergangenen Jahr auf dem anarchisch anmutenden Fusion-Festival aufgetreten ist: „Keine Macht für niemanden!“
Durch diese Differenzen kam es, dass die erste Sozialistische Internationale von Marxisten und Anarchisten zerbrach. Auch die zweite Sozialistische Internationale von marxistischen Sozialisten und Sozialdemokraten scheiterte. Seitdem scheint es, als lägen zwischen Anarchisten, radikalen Sozialisten und Sozialdemokraten unüberbrückbare Gräben, obwohl sie ursprünglich alle für die Utopie einer besseren Welt kämpften – allerdings auf unterschiedlichen Wegen dorthin unterwegs waren.
Die wilden 68er
Christiania zeigt, wie aus anarchistischer Utopie nachhaltige Realität werden kann. Ohne direkte Organisation trieb es junge Menschen einst in diesen Freiraum. Sie kamen, weil sie vor exorbitanten Mieten fliehen und Freiheit, vor allem von Konventionen, wollten. Die Jahre um 1968 wurden im ganzen Westen zum Synonym für wilde Zeiten.
Die einflussreiche Bewegung der ’68er fand in US-Universitäten ihren Anfang und nahm gen Europa ihren Lauf. In Berlin prangerte Rudi Dutschke die ausgebliebene Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sowie gesellschaftliche Konventionen an. Nach einem Attentat setzte er sich nach Dänemark ab – auch er war von Christiania fasziniert.
Angekommen in der Realität
Die Freistadt Christiania wurde im Rahmen der ’68er-Bewegung zu einem gesellschaftlichen Projekt. Die Häuser wurden liebevoll ausgestaltet und ein Konsens-Plenum geschaffen. „Dadurch ziehen sich Entscheidungen hin und das Dorf stagniert“, erklärt Bewohnerin Carolin. „Trotzdem hat sich viel geändert, beispielsweise wurde die Gastronomie kommerzialisiert.“ Es werden aber auch soziale Aufgaben übernommen: „Im nach seiner Form benannten Bananenhaus können Obdachlose leben und werden geachtet.“
In Christiania trifft Utopie auf Realität. In letzterer ist die Freistadt spätestens mit dem Grundstückskauf einiger Bewohner vor ein paar Jahren angekommen. Doch der Vorbild-Charakter bleibt bestehen, selbst in Kopenhagen. „Nicht nur in Christiania, auch hier in der eigentlichen Stadt wurde versucht, Utopie Realität werden zu lassen“, sagt Gertrud Jorgensen vom Centre for Strategic Urban Research der Universität Kopenhagen. „Wir haben versucht, unsere Stadtplanung in Einklang mit der Natur zu bringen und Randgruppen einzubinden.“
„Willkommen in der EU“
Die Stadt Kopenhagen ist laut dem jährlichen „Quality of Life Survey“ der EU-Agentur Eurofound die lebenswerteste Stadt der Welt. Die Begründung: Sie sei in Sachen Toleranz sowie Umwelt- und Baupolitik neue Wege gegangen.
Mit der Freistadt Christiania zeigt Kopenhagen, dass ein städtisches Leben abseits des Mainstreams möglich ist, wenngleich dieses gelebte Ideal nicht ohne Widersprüche bleibt.
Beim Verlassen von Christiania fällt ein Schild auf: „Willkommen in der EU!“ Die Außengrenzen hat das sich nach innen so offen zeigende Dänemark jedoch vor kurzem für flüchtende Menschen verschlossen.