Crashkurs in Sachen kultureller Kompetenz
Die aktuelle Fluchtsituation konfrontiert uns in einem nicht gekannten Tempo mit Neuem und Unbekanntem, seien es andere Sprachen, Traditionen oder Verhaltensweisen. Wie verändert sich die Gesellschaft dadurch?
Im vergangenen Jahr kamen mehr als eine Million Menschen auf der Suche nach Sicherheit und Frieden nach Deutschland. Seitdem diskutieren Gesellschaft, Medien und Politik, welchen Einfluss „die Flüchtlinge“ auf die Menschen und das Leben in Deutschland haben. Eine Folge der ARD-Talkshow „Anne Will“ titelte: „1 Million Flüchtlinge – Wie verändern sie Deutschland?“
Dieser Titel greift jedoch zu kurz: Es geht nicht nur darum, wie „die anderen uns“, also „unseren“ Arbeitsmarkt, „unsere“ Altersstruktur, verändern, sondern auch darum, wie wir uns selbst durch unseren Umgang mit der aktuellen Situation verändern und was dieser Umgang über uns aussagt.
Die Chefredakteurin der Frankfurter Rundschau, Bascha Mika, zog schon im Oktober 2014 in einem Artikel1 ein erstes trauriges Resümee aus den gesellschaftlichen Entwicklungen: „Flüchtlingselend ist für uns längst wieder das Leid der anderen.“ Anders als nach 1989 sei unsere Gesellschaft heute weniger bereit, Empathie zu zeigen. „Wer sich zurzeit Debatten zur Flüchtlingspolitik anhört – vom Stammtisch bis ins Regierungsviertel – muss den Eindruck haben, dass sich die Empathie von damals ziemlich verflüchtigt hat.“
Fortschreitende Polarisierung der Gesellschaft
Im vergangenen Jahr gab es einige Situationen und Ereignisse, die eine andere gesellschaftliche Entwicklung vermuten lassen. Es gibt sie, die vielen ehrenamtlichen Helfer, ohne die die Versorgung, Unterbringung und erste Integration der Geflüchteten völlig undenkbar wäre, es gibt Menschen, die entschieden den Mund aufmachen gegen rechte Parolen und Gewalt. Doch es gibt eben auch die andere Seite: Offen rassistische und menschenfeindliche Äußerungen werden in der öffentlichen Diskussion immer häufiger zur akzeptierten Norm, gehören in sozialen Netzwerken schon lange zum gängigen Jargon. Mehr als tausend Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte wurden 2015 gemeldet, fünf Mal mehr als im Vorjahr.
Ulrich Wagner, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Marburg, empfindet die Hilfsbereitschaft vieler Deutscher als eine „sehr positive Entwicklung“. Wagner: „Ein solch aktives Hilfsnetzwerk hat es in den 1990er Jahren nicht gegeben, als viele Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland flohen.“
Gleichzeitig vermute er aber auch, dass die gegenwärtige Polarisierung auf der politisch rechten Seite langfristige Auswirkungen auf die Gesellschaft haben könnte.
Chancen der eigenen kulturellen Weiterentwicklung erkennen
Eine große Schwierigkeit sieht Sozialpsychologe Wagner zudem im gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Integration: „Die öffentliche Debatte ist aktuell darauf ausgerichtet, eine Assimilation der Geflüchteten zu fordern“, sagt Wagner. Es sei häufig die Rede davon, dass „die anderen“ lernen müssten, wie man hier lebe.
„Da ist eine Bewegung der autochthonen Gesellschaft überhaupt nicht mit einkalkuliert“, so Wagner. In bestimmten Bereichen, zum Beispiel hinsichtlich der Akzeptanz von Grundrechten, sei diese Forderung völlig legitim. In anderen hingegen brauche es eine größere Bereitschaft, eigene Verhaltensweisen zu hinterfragen. „Durch neue Perspektiven von außen haben wir selbst in viel stärkerem Maße die Chance, unsere eigene Kultur zu durchdenken. Deshalb sollten wir als Gesellschaft Einwanderung nicht immer nur mit negativen Punkten in Verbindung bringen, sondern auch die Chancen in Bezug auf unsere eigene kulturelle Weiterentwicklung erkennen.“
Die übersensible Reaktion einer Gesellschaft auf Einwanderung und damit die Angst vor einem Verlust der „eigenen Werte und Kultur“ sei sozialpsychologisch betrachtet immer auch ein Ausdruck kultureller Unsicherheit. Das merke man besonders stark in Regionen, in denen es wenig Einwohner mit Migrationsgeschichte gebe. „Hier fehlt der Kontakt zu Menschen aus anderen Kulturen, wodurch es schwierig ist, kulturelle Kompetenz zu erlernen“, so Wagner.
Aktuelle Fluchtsituation hält uns einen Spiegel vor
Vielleicht geht es zuerst einmal gar nicht so sehr um die Frage, wie die Fluchtsituation uns verändert, sondern vielmehr darum, welche neuen Perspektiven und Chancen sie uns eröffnet. Sie hält uns nämlich gesellschaftliche Probleme vor Augen, die schon sehr lange existieren. Zum Beispiel zeigt sie uns, dass wir als Gesellschaft in einer globalisierten Welt noch ein gutes Stück Arbeit vor uns haben, wenn es um unsere Offenheit gegenüber Neuem, uns Unbekanntem geht. Dass das Zusammentreffen von Menschen aus verschiedenen Kulturen in vielen, häufig eher ländlich geprägten Gebieten bisher kaum gefördert wurde. Sie zeigt auch, dass es viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum gibt – für die gesamte Gesellschaft, Geflüchtete eingeschlossen.
Es gibt sie, die gute Nachricht: Wir sind mitten in einem Lernprozess, erhalten eine Art „Crashkurs“ in Sachen kultureller Kompetenz und sind gezwungen, über lange bestehende Probleme öffentlich zu diskutieren. Noch ist alles offen, wir können unsere eigene Entwicklung selbst gestalten und somit bestimmen, wie „die Flüchtlingssituation“ uns zukünftig verändern wird.
1 http://www.fr-online.de/meinung/deutschland-fluechtlinge–das-leid-der-anderen,1472602,28640120.html