Die wehrhaften Opfer des Kolonialismus
Wer die heutige Weltordnung verstehen will, sollte einen Blick in eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Vorkriegsgeschichte werfen: den Kolonialismus. Seine Folgen sind immer noch spürbar. Doch damals wie heute wehren sich die Unterjochten
Kolonialismus erzählt immer eine Geschichte aus zwei Blickwinkeln, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die einen berichten von unerträglichem Leid und rücksichtsloser Ausbeutung, die anderen von einer ehrwürdigen Mission, der „Inwertsetzung“ des afrikanischen Kontinents.
Spaltung des Kontinents Afrika
Als Meilenstein bei der Aufteilung Afrikas unter den Imperialmächten gilt die sogenannte Kongokonferenz, die von November 1884 bis Februar 1885 unter Ausschluss afrikanischer Vertreter in Berlin abgehalten wurde und das Schicksal eines ganzen Kontinents besiegeln sollte. Trotz gieriger Ambitionen Kaiser Wilhelms, der im Wettrennen um die Kolonien bis dato zu kurz gekommen war, wurde Deutschland ein vergleichsweise kleiner Teil vom „Kuchen Afrika“ zugeteilt. Ab 1884 fielen unter anderem das heutige Togo, Ghana, Tansania sowie die Inselgruppe Papua-Neuguinea unter die „Schutzmacht“ der Deutschen.
Befürworter des Kolonialsystems berichten von Pflanzern und Siedlern, die auszogen, um den europäischen Fortschritt und die europäische Kultur nach Afrika zu bringen. Doch können diese Berichte keinesfalls über das chauvinistische und rigoros rassistische Überlegenheitsdenken der Europäer hinwegtäuschen, welche die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in ihren Schutzgebieten massiv umkrempelten.
Alltägliche Gewalt und Ausbeutung
Dabei wurde weniger auf Kooperation mit den Einheimischen gesetzt, sondern auf eine gebieterische Durchsetzung der eigenen Interessen. Hierfür stand laut dem deutschen Auswärtigen Amt allen deutschen Gouverneuren, Militärs, aber auch Pflanzern und Siedlern die Ausübung physischer Gewalt als väterliches Züchtigungsrecht zu. Insbesondere in den Anfangsjahren wurde willkürlicher Gewalteinsatz zum Ersatz fehlender Verwaltungsstrukturen und einer mangelnden Rechtsprechung. Die „Kiboko“ oder auch „Schambock“ genannte Nilpferdpeitsche galt laut dem Auswärtigen Amt als Züchtigungsinstrument, um Aufständische gehörig zu machen.
Einheimische wurden verpflichtet, durchnummerierte Passmarken sichtbar um den Hals zu tragen, auf denen ihr Heimatdistrikt vermerkt war. Die Ausreise war nur nach genehmigtem Antrag bei der Kolonialverwaltung zulässig. So wurde zum einen die Mobilität der Einheimischen unterbunden, zum anderen wurden durch willkürliche Grenzziehungen bestehende gesellschaftliche Strukturen gebrochen, was den Zugriff auf die afrikanischen Arbeitskräfte merklich vereinfachte.
Auf Kooperation mit der Schutzmacht konnten lediglich regionale Stammesführer oder vereinzelte Militärs hoffen, die oftmals als Bindeglied zwischen der Kolonialverwaltung und den Einheimischen fungierten. Von einem Zusammenleben auf Augenhöhe konnte nicht die Rede sein. Es handelte sich um eine reine, rassistisch legitimierte Fremdherrschaft.
Keine Gewalt ohne Gegengewalt
Die Afrikaner ließen die Fremdherrschaft nur bis zu einem bestimmten Punkt wehrlos über sich ergehen. Zwar kam es nahezu täglich zu Rebellionen, jedoch formierte sich erst mit der Einführung einer Kopfsteuer zu Anfang des 20. Jahrhunderts ein kollektiver Widerstand. Die Arbeiter wurden dazu gezwungen, regelmäßige Abgaben an die Kolonialherren zu leisten. Viele Betroffene trieb dies in den wirtschaftlichen Ruin – Zwangsarbeit und Umsiedlungen im großen Stil waren die Folge.
Der erste groß angelegte Widerstand mündete in den Maji-Maji-Krieg von 1905 bis 1907 in Deutsch-Ostafrika, was dem heutigen Tansania, Burundi und Ruanda entspricht. Zunächst konnten die Aufständischen ihre zahlenmäßige Überlegenheit nutzen und Repräsentanten des Kolonialsystems schmerzlich treffen. Jedoch dauerte es nicht lange, bis deutsche Militärs mit der „Taktik der verbrannten Erde“ die Lebensgrundlage großer Teile der Bevölkerung in Flammen setzten.
Ein Drittel der Bevölkerung, rund 180.000 Menschen, ließen in diesem Krieg ihr Leben. Ähnlich grausam verliefen die Widerstände der Volksstämme Herero und Nama, die sich ab 1905 in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, ereigneten. Die Herero flüchteten in das Omaheke-Sandfeld, dessen abzählbare Wasserstellen von deutschen Truppen systematisch blockiert wurden, um die Aufständischen verdursten zu lassen.
Zwei Nachkommen der Volksstämme fordern derzeit vor einem Gericht in New York Entschädigungen. Sie wehren sich gegen die Haltung der deutschen Bundesregierung, Entwicklungshilfe statt Geld an einzelne Opfer zu zahlen. Ihre Argumentation: Es sei unklar, ob diese die damals betroffenen Minderheiten erreiche.
Folgenreiche Zerstörung der Souveränität
Die Kolonialisierung zieht bis heute dramatische Folgen mit sich. In vielen Gegenden Afrikas kam es im Rahmen der Kolonialisierung zur Bildung sogenannter Cash-Crop-Regionen. In diesen Regionen wurden Güter ausschließlich für den Weltmarkt angebaut und produziert. Den Afrikanern blieb der Zugang zu diesen Erzeugnissen oftmals verwehrt. Was im Kleinen als Ausbeutung ökologischer Ressourcen begann, hat sich im Laufe der Zeit mit dem Einzug europäischer Handelsleute und der damit verbundenen Kontrolle über sämtliche Wirtschaftszweige verfestigt. Große Teile der erwirtschafteten Gewinne flossen direkt nach Europa ab.
Außerdem richteten die Kolonialherren die afrikanische Produktion fast ausschließlich auf landwirtschaftliche Erzeugnisse aus. Das zeigt sich noch heute: Während im „Westen“ als Folge der Industrialisierung insbesondere hochwertige technologische Produkte und Industriegüter hergestellt werden, erwirtschaftet die Mehrheit der afrikanischen Länder noch immer einen erheblichen Teil ihres Einkommens aus Erzeugnissen wie Baumwolle, Kakao und Kaffee. Bis heute gelten viele afrikanische Staaten als „failed states“, Hunderttausende sind auf der Flucht vor lebensbedrohlicher Armut.