Willkommen in unserer „behinderten Gesellschaft“
Leben mit einer Schwerbehinderung bedeutet tagtäglich auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Dabei könnte es auch anders gehen – würden im Alltag nicht so viele Hürden lauern, die ein selbstbestimmtes Leben verhindern.
Magdeburg kämpft seit Jahren mit einem negativen Ruf. Womöglich liegt es an der fehlenden Offenheit und Barrierefreiheit. „Ich müsste eigentlich allen Besuchern sagen, bleibt weg. Die Stadt will euch nicht“, erzählt Adrian Maerevoet. Seit zwölf Jahren ist er Beauftragter der Landesregierung Sachsen-Anhalt für die Belange der Menschen mit Behinderungen. Maerevoet kümmert sich in erster Linie darum, dass gemäß dem Behindertengleichstellungsgesetz niemand benachteiligt wird. Doch die Großbaustellen in der Stadt machen es ihm und die, für die er kämpft, schwer.
„Wenn ich derartig mit der Orientierung meiner Bürger umgehe, schließe ich jene Leute aus, die kein gutes Orientierungsvermögen haben“, erklärt er mit deutlich verärgertem Unterton. Seine politische Unabhängigkeit kommt ihm dabei zugute. „Ich kann sagen, was ich möchte und was mir wichtig ist.“ Diese Unabhängigkeit nutzt der studierte Pädagoge, um Politikern verbal auch einmal auf die Füße zu treten. Theoretisch kann er bei Gesetzesentwürfen als Berater herangezogen werden – in der Regel passiert das aber eher selten. Das störte Maerevoet aber in der Regel wenig, gäbe es nur mehr Politiker, die eindeutige Aussagen treffen und sich nicht hinter Gesetzen verstecken.
Menschenrecht nach Kassenlage
Ausgerechnet bei den Themen Inklusion und Chancengerechtigkeit hinkt die Landeshauptstadt selbst ihren Ansprüchen hinterher. Obwohl im Landesgleichstellungsgesetz festgeschrieben ist, dass die Bundesländer die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben aller Menschen schaffen müssen, werden in Sachsen-Anhalt „Menschenrechte nach Kassenlage“ gemacht, so Maerevoet. Sowohl bei der personellen Aufstellung als auch den finanziellen Spielräumen seien andere Bundesländer deutlich besser aufgestellt. Das Argument, es fehle an Geld, stimme zwar häufig, aber wieso würde dann nicht einfach auf das ein oder andere Gebäude verzichtet und stattdessen ein anderes barrierefrei umgebaut, fragt sich der 63-Jährige?
Generell sieht Maerevoet die Deutschen als Meister im Schaffen von Sonderregelungen. „Für jede Gruppe machen wir ein extra Kästchen auf, stecken die Menschen da rein und erklären dann, wie toll sie es haben.“ Ein gutes Beispiel seien Förderschulen. Zwar finde dort eine spezielle Förderung statt, allerdings erfolge sie völlig abgeschottet vom Rest der Welt. So funktioniere „klassische Ausgrenzung“. Wir würden uns einen „Luxus“ an Verwaltungsaufwand leisten und viel Geld für Diskriminierung ausgeben. Auch jene Kommissionen, die jährlich bei Menschen mit Behinderungen überprüfen, ob eine Behinderung noch besteht, zählt Maerevoet dazu. „Wenn einem ein Bein fehlt, wird das nicht in einem Jahr nachwachsen, trotzdem muss man sich jährlich dafür rechtfertigen.“
Mit elf Jahren erwachsen
Diesen verwaltungstechnischen Aufwand spüren nicht nur die Betroffenen, sondern auch Pflegedienste. Die eigentliche Pflege kommt dadurch oft zu kurz, obwohl die Nachfrage groß ist. Annette Müller hat sich vor drei Jahren selbstständig gemacht und die erste ambulante Kinderkrankenpflege in Magdeburg gegründet. Aktuell führt sie eine Patienten-Warteliste. Im Moment betreuen die neun Mitarbeiterinnen an sieben Tagen die Woche 40 Patienten in Magdeburg und Umgebung. Die Einsätze reichen von 20 Minuten bei Kindern mit Diabetes bis zu ganzen Tagen bei körperlich und geistig schwerstbehinderten Jugendlichen.
Die größte Hürde seien die Kostenträger. „Die Krankenkassen wollen kein qualifiziertes Geld bezahlen. Manchmal geht es dort zu, wie auf einem türkischen Basar.“ Müller zahlt ihren Mitarbeiterinnen mehr als den Mindestlohn, doch bei den Kostenträgern suche man vergeblich nach der Bereitschaft für eine angemessene Bezahlung von Pflegekräften. Auch würden die Kinder nicht entsprechend ihrer Bedürfnisse beurteilt werden, beklagt Müller. Im Alter von bis zu zwei Jahren werden sie mit einer pauschalen Pflegestufe eingestuft, doch bereits ab dem elften Lebensjahr wie Erwachsene behandelt. Müller erzählt mit spürbarem Unmut von einem Fall, bei dem ein Kind in einer Erwachsenen-Tagespflege untergebracht wurde. „Da sitzt ein sechsjähriges Kind zwischen demenzkranken Omas und Opas. Dabei haben die ganz andere Bedürfnisse!“
Müller lebt für ihren Beruf und vor allem für die Kinder. Ob zum wöchentlichen Reittraining oder Einkaufen im Supermarkt – wo es geht, ermöglicht sie den Jugendlichen die selbstbestimmte Teilhabe am alltäglichen Leben. „Ich gehe nicht davon aus, was diese Menschen nicht können, sondern schaue, was sie besonders gut können.“
Gefangen im „Hamsterrad Behinderung“
Ab dem 15. Lebensjahr verlieren Kinder laut dem Kinderförderungsgesetz ihren Anspruch auf einen Hortplatz. Für erwerbstätige Eltern wird eine Vollzeitbeschäftigung damit nahezu unmöglich. Hinzu kommt das Problem, dass Eltern oft nicht wissen, welche Unterstützung ihren Kindern zusteht. „Wenn man die Familien ein paar Jahre begleitet, sieht man, wie sie immer mehr an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit kommen“, sagt Müller. „Dieser Bürokratismus – allem hinterherlaufen, zigmal etwas aufschreiben – viele Eltern geben irgendwann auf.“ Viele müssen sogar ihren Beruf aufgeben oder verfallen in Depressionen. Die Unterstützung durch Müllers Pflegedienst hilft zumindest für einige Stunden am Tag neue Kraft zu tanken.
Müller wünscht sich, dass es für die Eltern einfacher wäre, aus dem „Hamsterrad Behinderung“ herauszukommen. Doch momentan ist die nachmittägliche Betreuung behinderter Jugendlicher in Sachsen-Anhalt überhaupt nicht geregelt. Hoffnung bietet eine Tagespflege, die Müller noch in diesem Jahr in Magdeburg eröffnen möchte.