4/8: „Frauen müssen sich mehr zutrauen“
Sie war die erste Bundesvorsitzende der JuSos und elf Jahre lang Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Im Interview blickt Heidemarie Wieczorek-Zeul zurück auf ihre politische Laufbahn, spricht über bestehende patriarchale Strukturen und warum sich Frauen eigene Netzwerke bilden müssen.
sagwas: Frau Wieczorek-Zeul, in Ihrem aktuellen Buch „Gerechtigkeit und Frieden sind Geschwister“ erlebt man Sie als engagierte Politikerin, die stets für ein „selbstbewusstes Europäisches Parlament in einem selbstbewussten Europa“ eingetreten ist. Wie stehen Sie der Europäischen Union heute gegenüber?
Wieczorek-Zeul: Als ich 1979 ins erste direkt gewählte europäische Parlament einzog, einte uns alle die Perspektive, dass sich Europa gegenüber den Supermächten behaupten müsse. Ich denke nach wie vor, dass die Frage der Selbstbehauptung Europas wichtig ist. Vor allen Dingen, weil wir die einzige größere Region der Welt sind, in der soziale, ökologische, wirtschaftliche und politische Verantwortung zusammenkommen können.
Sie schreiben, dass die Chance, etwas Neues, Soziales und Gerechtes zu schaffen, der leitende Gedanke hinter der EU war. Gilt dieser Leitgedanke noch oder brauchen wir nicht vielmehr neue Anreize?
Ich glaube schon, dass je mehr Gewalt in der Welt wächst, umso mehr werden auch die Menschen spüren, wie wichtig das zivilisierende Element der europäischen Zusammenarbeit ist. Auch wenn es für viele heute nicht mehr so aktuell zu sein scheint, es ist doch ein großer zivilisatorischer, humaner Fortschritt, dass die Europäer ihre Konflikte in Redeschlachten austragen und nicht mehr in den Schützengräben. Dieser Aspekt und die Zusammenarbeit schaffen und sichern Frieden. Hinzu kommt allerdings, dass wir die durch den Marktradikalismus fehlgelaufene europäische Wirtschafts- und Währungsunion erst einmal wieder retten müssen, indem wir die europäische Währung zu dem machen, was sie eigentlich sein sollte: eine international bedeutsame Struktur, die uns in der Globalisierung und bei der Steuerung der Wirtschaft hilft. Ich hoffe, dass wir sozusagen ein „restart Europe“ leisten können, gerade weil es in vielen Ländern die Tendenz gibt, sich in nationale „Festungen“ zurückzuziehen, was unsere Werte zerstört.
Sie waren elf Jahre am Stück Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – so lang wie niemand zuvor. Was betrachten Sie als Ihren größten Erfolg und was würden Sie heute anders machen?
Ich denke, das Wichtigste war, dass wir damals, als es die Nachhaltigkeitsentwicklungsziele noch nicht gab, deutlich gemacht haben, dass wir global gestalten müssen. Mit der Umsetzung der Millenniums-Ziele haben wir erreicht, dass die Armut weltweit drastisch reduziert werden konnte. Als ich als Ministerin angefangen habe, wurde der Kampf gegen HIV, Malaria und Tuberkulose noch gar nicht als entwicklungspolitische Aufgabe erkannt. Umso mehr bin ich Kofi Annan, dem damaligen UN-Generalsekretär dankbar, dass er den globalen Fonds zur Bekämpfung dieser Krankheiten in Gang gesetzt hat. Seit 2002 hat der Fonds 20 Millionen Menschenleben gerettet. Das zeigt: Wenn man sich mit anderen zusammen engagiert, kann man wirklich etwas bewegen. Was ich auch wichtig finde, ist der entwicklungspolitische Freiwilligen-Dienst weltwärts, den wir geschaffen haben. Es sind heute weit über 20.000 Jugendliche aus Deutschland „weltwärts“ gegangen und haben Initiativen zur Bekämpfung der Umweltzerstörung unterstützt oder benachteiligten Kindern geholfen. Diese jungen Menschen kommen zurück mit ihren Erfahrungen und werden niemals zu Rassisten.
Ein weiteres Thema, das Sie nie losgelassen hat, war die Gleichberechtigung von Frauen. Sie standen zu Beginn Ihrer Karriere unter besonderer Beobachtung, wurden nicht selten sexistisch behandelt. Wie erinnern Sie sich an das entgegengebrachte oder auch fehlende Vertrauen?
Zunächst einmal glaube ich, Frauen tendieren eher dazu, Selbstzweifel zu haben. Demgegenüber gibt es Männer, die denken, sie seien zu allem fähig. Die eigenen Kräfte richtig einschätzen, das ist, glaube ich, sehr wichtig. Und dann müssen Frauen gerade in Zeiten, in denen es wenig weibliche Politikerinnen gibt, ein positives Beispiel für andere Frauen sein, sich etwas zutrauen und ein weibliches Netzwerk schaffen. Partnerinnen sind wichtig. Ich habe es damals selber erlebt, die journalistischen Zuschreibungen haben mich entweder als „wilde Linksradikale“ dämonisiert oder als „kleines Dummchen“ dargestellt.
Wie beurteilen Sie die Stellung der Frau in Deutschland heute?
Wenn wir unser Land anschauen, denke ich, sind die Strukturen des Patriarchats im wirtschaftlichen Bereich und sicher auch in der Politik, zumal bei den rechten Parteien, noch sehr stark verankert. Andererseits gibt es wirklich große Fortschritte. So sind zum Beispiel die Rollenzuschreibungen deutlich verändert worden, vor allem bei Fragen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber wir müssen auch über den Tellerrand hinaussehen: Trump hat jetzt die Mittel für den Bevölkerungsfonds der UN gestoppt, weil er behauptet, damit würden Abtreibungen finanziert werden. Dabei hat der Fonds vor allem die Aufgabe, Frauen den Zugang zu Mitteln der Familienplanung zu ermöglichen. Frauen müssen über ihre Sexualität selbst entscheiden können. Die Verantwortung für eine solche globale Gerechtigkeit müssen wir auch wahrnehmen.
Sie sprechen von stark verankerten Strukturen eines Patriarchats. Frauenquoten sollen hier Abhilfe leisten. Was muss aber passieren, dass solche Quoten gar nicht erst notwendig sind?
Ich finde, bis auf weiteres kommt es schon noch auf Quoten an. Es wäre aber auch wichtig, dass die anderen Parteien – CDU und CSU oder auch die FDP – nachziehen. Dort sind Frauen massiv unterrepräsentiert. Es kommt darauf an, dass der gesamte Deutsche Bundestag die Bevölkerung vertritt, die Gleichberechtigung ist schließlich ein Verfassungsauftrag und vielleicht wird eine Quotenregel dann irgendwann hinfällig.
Wie würden Sie die nachfolgenden Sätze vervollständigen:
Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist eine Frage … der Demokratie!
Frauen in Führungspositionen sind … ein großer Gewinn für das Land und die Gesellschaft. Es kommt aber darauf an, dass Frauen in Führungspositionen Frauen insgesamt stärker fördern.
Herzlichen Dank für das Gespräch!