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Der Gewalt ausgesetzt?

Von Andrea Burkhardt / 27. November 2019
picture alliance | CHROMORANGE / Martin Schröder

Ein Blick in die aktuellen Nachrichten lässt Schlimmes vermuten: Egal wo, die Welt ist alltäglicher Schauplatz von Gewalt. Kein Wunder, dass wir uns zunehmend fürchten. Aber sind diese Sorgen begründet?

Schlagzeilen von Massakern mit unzähligen Toten, Bilder von Kriegsschauplätzen und Berichte über Gewalttaten in der Nachbarschaft – all dies haben wir ständig vor Augen. Was nichts anderes bedeuten kann, als dass die Welt da draußen immer gewalttätiger wird. Oder ist unsere Wahrnehmung verzerrt? Denn die Zahlen sagen etwas anderes.

„Wenn die Vergangenheit ein fremdes Land ist…

… dann ist dieses Land erschreckend gewalttätig.“

Dieses Zitat aus Steven Pinkers „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ verweist auf die Brutalität und Gefahren, denen die Menschen früher ausgesetzt waren. Gewalt war laut dem amerikanischen Wissenschaftler im Alltag allgegenwärtig. Doch welche Zeit meinen wir, wenn wir von einer solchen Vergangenheit sprechen?

Eine Kaffeewerbung aus dem Jahre 1952 zeigt die Anwendung häuslicher Gewalt. Unter dem Slogan „If your husband ever finds out you’re not ‚store-testing‘ for fresher coffee…“ ist ein Mann von hinten auf einem Stuhl zu sehen, die Frau liegt bäuchlings auf seinem Schoß, während er zum Schlag ausholt. Diese Darstellung erschien seinerzeit tatsächlich legitim, heute wäre eine derartige Werbung nicht nur inakzeptabel, sondern undenkbar.

Quelle: https://www.pinterest.de/pin/127789708146641362/

Allein dieses Beispiel verdeutlicht, wie sehr Wahrnehmung und Akzeptanz von Gewalt Veränderungen unterworfen sind: Was noch vor einigen Jahrzehnten als normal galt, ist es heute längst nicht mehr. Zum Glück.

Leben im Mittelalter: mehr Gewalt unter Männern

Was aber ist Gewalt? Wirft man den Blick bis ins Mittelalter zurück, zeigt sich eine deutliche Tendenz. Offensichtlich versuchte man, sein vermeintliches Recht vor allem mit Mitteln der Gewalt durchzusetzen. So entdeckte vor ein paar Jahren ein internationales Forscherteam, welches an der dänischen Universität Odense Skelette aus dem 12. bis 17. Jahrhundert analysierte, eine auffällige Häufung von Schädelfrakturen unter jungen Männern.

Aus der Tatsache, dass die Schädelverletzungen dreimal so hoch waren wie in der Gegenwart und diese bei Männern wesentlich öfter vorkamen als bei Frauen, schloss das Team, dass im Mittelalter Kämpfe in Form von eskalierten Handgreiflichkeiten und Schlägereien nicht selten waren. Was in der Folge wiederum die Lebenserwartung Betroffener massiv senkte.

Gewalt in Zahlen – mitten im Sinkflug

Wissenschaftler Pinker beschreibt jedoch in seinem Buch, dass die Mordrate in Europa zwischen dem 14. Jahrhundert und heute kontinuierlich gesunken ist und wir vermutlich in der gewaltärmsten Zeit überhaupt leben.

Die folgende Grafik veranschaulicht, wie drastisch Tötungsdelikte abgenommen haben: Waren um 1300 in Westeuropa 60 Fälle pro 100.000 Menschen nicht ungewöhnlich, so ging die Zahl im Jahr 2000 gegen null.


Quelle: https://www.spektrum.de/news/immer-weniger-gewalt-in-der-welt/1559618

Der Weg in eine friedlichere Welt

Gewalt war also früher verbreiteter als heute? Das ist kaum zu glauben. Die Nachrichten zeigen terroristische Anschläge auf der ganzen Welt, sprechen von einem ideologischen Kampf der Kulturen und dem bevorstehenden Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Dabei muss man gar nicht in die Ferne schweifen, um Angst zu bekommen: SUVs fahren hilflose Passanten tot, Menschen werden vor die U-Bahn geschubst und Obdachlose aus Spaß angezündet. Man fühlt sich schon unsicher, wenn man nur aus dem Haus geht.

Und es lässt sich ja auch nicht leugnen: Es gibt sie, Kriege, Völkermorde – nicht nur in gefährlichen Regionen; ebenso sind Nuklearwaffen nach wie vor eine reelle Bedrohung. Dennoch stehen die Zahlen für eine klare Botschaft. Nämlich die, dass wir sicherer sind, als es etwa die Menschen im Mittelalter je waren. Auch wenn es noch immer vorkommt, dass jemandem der Schädel eingeschlagen wird, weil er zum Beispiel einem anderen Geld schuldet – es ist nicht mehr üblich. Heute gilt in weiten Teilen der Welt das Gewaltmonopol des Staates. Im Streitfall holt man die Polizei oder geht vor Gericht.

Doch friedvolle Zustände fallen nicht vom Himmel. Sie entwickeln sich. Die Einführung einer staatlichen Ordnung, von Gesetzen und Strafmaßnahmen sowie die Herausbildung anderer moralischer Einstellungen haben vielfach den Weg bereitet. „Hobbes’ Leviathan und die Kant’sche Vernunftphilosophie gehen eine Symbiose ein. Menschen können aus seiner (d.h. Pinkers, Anm. der Red.) Sicht einsehen, dass es für sie günstiger ist, auf Gewalt weitgehend zu verzichten. Man müsse sie nur ausreichend überzeugen“, lässt sich Pinker im Deutschlandfunk zitieren.

Woher kommt diese verzerrte Wahrnehmung?

Der Grund dafür, glaubt nicht nur der Psychologe, ist eine psychologische Illusion. Durch die modernen Medien rücken Ereignisse, wie weit weg sie auch von einem selbst stattfinden mögen, plötzlich ganz nah heran: Sehen wir einen Flugzeugabsturz im Fernsehen, wird unser Gehirn mit diesen Bildern gefüttert, sie werden Teil unserer Vorstellung von der Welt. Daher kommt es zu einer Überschätzung des (eigenen) Risikos. In der Folge wachsen Unsicherheit und Angst ganz automatisch. Eigentlich logisch, wenn auch sonst nicht weiter hilfreich.

Was helfen könnte, ist sich dieses Wissen immer wieder vor Augen zu führen, um die eigene Wahrnehmung einer Welt, die von immer mehr unkontrollierbaren Gefahren und nicht enden wollender Gewalt geprägt zu sein scheint, zu relativieren. Dann fällt es auch leichter anzuerkennen, dass wir im Vergleich mit unseren Ahnen aus der Vergangenheit in sehr sicheren Zeiten leben. Gute Aussichten, oder?

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