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Die Suche nach dem Negativen

Von Zita Hille / 11. August 2021
picture alliance / Zoonar | Svetlana

Wir selbst streben in vielen Lebensbereichen immer wieder nach einem Ideal, das so nicht existiert, und kritisieren uns schnell für Unzulänglichkeiten. Mit anderen gehen wir dagegen oft weniger hart ins Gericht. Warum?

„Das habe ich ja mal wieder super gemacht!“ Mit sarkastischem Unterton hat so etwas wohl schon jeder mal zu sich selbst gesagt. Allerdings sind mit Selbstkritik in der Regel negative Emotionen verbunden. Warum sind wir so hart zu uns selbst – und wenn andere Fehler machen, geben wir uns verständnisvoll? Nesibe Özdemir, Psychologin, Psychotherapeutin und als sogenannte „Psychfluencerin“ auf Instagram aktiv, versucht, darauf eine Antwort zu finden.

sagwas: Viele kennen es: Andere machen einen Fehler und man selbst zeigt Verständnis, fühlt mit und gibt sich hilfsbereit. Gleichzeitig verurteilen sich viele von uns oft schon für Missgeschicke, neigen sogar zur Selbstgeißelung. Frau Özdemir, warum ist das so?

Nesibe Özdemir: Gute Frage, die Antwort ist aber nicht ganz so einfach und eindeutig. Der häufigste Ursprung ist sicherlich im Kindesalter zu finden. Wenn wir zum Beispiel durch wichtige Bezugspersonen wie etwa den Eltern autoritär erzogen wurden, dann wurde eher streng mit uns umgegangen. Dies führt man als Erwachsene gegen sich selbst oft so weiter.

Warum bewerten wir aber beispielsweise auch gleiches Fehlverhalten – unseres und das von anderen – so unterschiedlich?

Es ist wichtig, wie mit Emotionen umgegangen wurde. Wir verinnerlichen diese Sätze, die wir von Bezugspersonen gehört haben: „Reiß Dich doch mal zusammen!“ oder „Hör auf zu weinen!“ Diese lassen wir unterbewusst immer wieder abspielen, wenn wir selbst Gefühle zeigen. Das nennt man „Introjekte“, gängiger ist der Begriff „innere Kritiker“.

Das klingt, als säße eine Person in uns, die ständig über uns selbst urteilt und uns schlechte Gedanken einredet.

Genau. Und dieser Gedanke wird schon in der Kindheit genährt und durch derartige Urteile und Bewertungen im Laufe des Lebens gefestigt.

Aber nicht jeder wird so streng erzogen und urteilt trotzdem harsch über sich selbst. Woran liegt das?

Es kann sein, dass wir von unseren Bezugspersonen eher liebevoll erzogen wurden und wir dennoch hart zu uns selbst sind. Wenn Eltern trotz ihrer Liebe zu uns mit sich selbst sehr hart und unbarmherzig umgegangen sind, dann beobachten wir das und lernen davon – das „Lernen am Modell“ quasi. Wir müssen das Verhalten also gar nicht selbst gelebt haben, sondern können auch „nur“ Beobachter gewesen sein.

In einer negativen Stimmung zu sein hat nicht nur Nachteile, so Nesibe Özdemir (Foto: N. Özdemir)
In einer negativen Stimmung zu sein hat nicht nur Nachteile, so Nesibe Özdemir (Foto: N. Özdemir)

Was, wenn man das nicht im Kindesalter lernt und Eltern damit gar nichts zu tun haben?

Den Fall gibt es natürlich auch. Hier spielen Glaubenssätze eine große Rolle. „Welche Annahmen habe ich über mich selbst, über andere Menschen und die Welt?“ Diese bahnen sich meistens schon in der Kindheit an, können aber erst im Jugendalter wurzeln. Diese Sätze beeinflussen dann unsere Wahrnehmung und versuchen, diese immer wieder zu bestätigen.

Das heißt, man stellt eine These auf und sucht nach Beweisen dafür, dass diese stimmt, obwohl das gar nicht der Fall sein muss?

Wenn ich den Glaubenssatz „Ich bin nichts wert“ verinnerlicht habe, werde ich unterbewusst Situationen suchen, die mir das immer wieder bestätigen. Ich interpretiere dann verschiedene Situationen so, dass sie mir sagen: Ja, stimmt, ich bin wirklich nichts wert. Dann verfestigt sich der Glaubenssatz. Unser Gehirn sucht nicht wirklich die Wahrheit, sondern versucht, das, was es „weiß“, zu bestätigen. Und jedes Mal, wenn sich diese negativen Glaubenssätze neu bestätigen, kann ich wieder besonders hart zu mir selbst sein.

Eltern tragen also eine ziemliche Verantwortung, hier kein falsches Vorbild zu sein.

Perfekte, ideale Eltern sind wir alle nicht und das sollte auch nicht das Ziel sein. Wir sprechen heute eher von dem Ziel, Eltern zu sein, die „gut genug“ sind. Dennoch sollten wir auf unsere Wortwahl unseren Kindern gegenüber achten. Nicht nur, um ihnen nichts einzureden, was später für sie hinderlich sein kann, sondern auch, weil wir unsere eigenen dysfunktionalen Glaubenssätze identifizieren können, wenn wir genauer darauf achten, was wir sagen. 

Erleben Sie Menschen mit solchen Einstellungen häufig in Ihrer Praxis?

Ja, das begegnet mir täglich. Gedanken bestimmen einfach unsere Realität – so sind wir Menschen gestrickt. Und wenn diese Gedanken eher hinderlich statt förderlich sind, müssen wir natürlich dahin schauen und identifizieren, welche Glaubenssätze dahinterstecken könnten. Das Identifizieren, Hinterfragen und Verändern von hinderlichen Gedanken ist eines der zentralen Bausteine der Verhaltenstherapie.

An der Fähigkeit zur Selbstreflektion ist ja grundsätzlich erst einmal nichts verkehrt. Wann wird ein derartiges Verhalten zum ernsten Problem?

Keiner von uns denkt immer nur positiv und das ist auch gar nicht das Ziel. In einer negativen Stimmung zu sein hat nicht nur Nachteile. Zum Beispiel denken wir dann eher analytischer und achten mehr auf Details, wir erkennen Fehler schneller und arbeiten eher konzentrierter als in einer positiven Stimmung. Wir sind eben Wesen mit Gefühlen, die alle wichtig sind und ihre Funktion haben. Wir können aus all unseren Gedanken und Gefühlen viel lernen. Wir sollten eben nur aufpassen, dass sie nicht überhand gewinnen und uns nicht zu stark steuern. 

Was kann man selbst tun, wenn man merkt, dass man gerade wieder besonders negativ über sich selbst urteilt?

Was wir dagegen tun können, ist mehr Bewusstsein zu schaffen und weniger zu bewerten. Vielleicht darf dieses Gefühl jetzt einfach mal sein, ohne dass ich es sofort bewerte. Ich nehme es an, fühle es und lasse es dann wieder weiterziehen. Je bewusster wir mit unseren Gedanken, Gefühle und Glaubenssätze umgehen, umso leichter fällt es uns auch, uns nicht in ihnen zu verlieren. Achtsamkeitsübungen und Selbstreflexion sind wichtige und hilfreiche Tools, um mehr Bewusstheit in dieser Richtung zu schaffen. 

Danke für das Gespräch!

10 Antworten auf „Die Suche nach dem Negativen“

  1. Von DoppelpunktB am 11. August 2021

    Eine Achterbahn der Gefühle mit meinem inneren Ich als Beifahrer. Interessanter und schön formulierter Artikel.

  2. Von Veilchen am 11. August 2021

    Ein sehr hilfreicher Artikel,um uns besser kennenzulernen

  3. Von Timea am 11. August 2021

    Super Artikel!

  4. Von Daniel am 11. August 2021

    Gut geschriebener Artikel 👍

  5. Von KS am 11. August 2021

    Am Artikel findet sich definitiv nichts negatives!

  6. Von Hanna am 11. August 2021

    Super Artikel und schöner reminder Dinge und vorallem auch Gedanken bewusster wahrzunehmen und zu reflektieren.

  7. Von Janni am 17. August 2021

    Super hilfreiche Inhalte, die vermutlich jede/n von uns interessieren! Die gestellten Fragen haben das Gespräch ideal auf den Punkt gebracht.

  8. Von Super am 1. September 2021

    Super Super Fanclub findet alles super.

  9. Von Chris am 1. September 2021

    „Innerer Kritiker“? Bitte nicht (so oft) füttern! Aber dafür muss man sich enorm unter Kontrolle haben. Ich glaube, auch mit Achtsamkeit ist es oft nicht ganz einfach, Dinge nicht zu nah an sich heranzulassen.

    1. Von Zita am 2. September 2021

      Absolut! Allerdings können viele Menschen das ja auch nicht mehr kontrollieren, wenn sie in die Sucht verfallen sind. Und auch ohne Sucht tun sich manche mit dem Thema Achtsamkeit schwer – aus welchen Gründen auch immer. Denke es hilft, wenn man Betroffenen trotz allem Verständnis zeigt. ☺️ Danke für den Kommentar!

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