Donnerstag, endlich Wochenende!
So könnten bald 3.000 bis 6.000 Spanier:innen jubeln. Sie sollen die Vier-Tage-Woche testen, gegen den Widerstand der Wirtschaft. Ist das eine gewagte oder geniale Idee? Die Signale aus der Forschung sind eindeutig.
1930 schrieb John Maynard Keynes, ein noch heute viel geachteter britischer Ökonom, einen Aufsatz, der sich liest wie ein Brief an unsere Generation. Der Titel: Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder. In hundert Jahren, schreibt Keynes, werde der technische Fortschritt so weit sein, dass die Menschen nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten müssten. Während ihnen Computer, Maschinen und Roboter die lästige Plackerei abnähmen, könnten sie sich der süßen Freizeit widmen.
Die Enkelkinder von damals, das sind die Menschen von heute, wir. Und wir wissen, dass Keynes, so genial sein ökonomisches Theoriegebäude auch war, in diesem Punkt irrte: Der segensreiche Fortschritt der Technik für den Menschen lässt noch immer auf sich warten. Statt das Mehr an Freizeit mit Musik oder Malerei zu genießen, malochen wir weiter, mehr als doppelt so lange als von Keynes prognostiziert: 37 Stunden arbeiten EU-Bürger:innen im Durchschnitt, Teilzeitjobs mitgerechnet.
Und diese 37 Stunden machen uns fertig. Laut Gesundheitsreport 2019 des Pharmakonzerns Stada litt mehr als jede:r Zweite der rund 18.000 Befragten in neun Ländern Europas schon einmal unter Burnout oder zeigte zumindest einige Symptome. 41 Prozent der Befragten beklagten: Es läuft etwas falsch in der Arbeitswelt.
Mehr Keynes wagen?
Die Lösung muss nicht erst noch gefunden werden. Sie wäre ganz einfach: mehr Freizeit, weniger Arbeit. Trotzdem haftet dem Vorschlag nach Arbeitszeitverkürzung etwas Radikales an. Im Juli 2020 forderte Linken-Politikerin Katja Kipping, mitten in der Coronapandemie, die Einführung der Vier-Tage-Woche, weil das die Menschen glücklicher und ausgeglichener mache. Holger Schäfer, Ökonom am Institut der Deutschen Wirtschaft, grätschte sogleich dazwischen. Der Vorstoß sei „gefährlicher Unsinn“, warnte er im Deutschlandfunk, weniger Arbeit würde die Wirtschaftskrise in alle Ewigkeit verlängern.
Ähnlich erging es Iñigo Errejo aus Spanien. Wie Kipping, so fordert auch der Politiker der linken Oppositionspartei Más País eine Vier-Tage-Woche in seinem Heimatland – was von der spanischen Wirtschaft mehrheitlich als „Wahnsinn“ abgetan wird. Doch anders als Kipping hatte Errejo Erfolg mit seinem Vorstoß. Die spanische Regierung unter Sozialdemokrat Pedro Sánchez stellt 50 Millionen Euro für die Vier-Tage-Woche bereit. Ab Herbst sollen 3000 bis 6000 Beschäftige in vor allem kleinen und mittleren Unternehmen schon am Donnerstag das Wochenende einläuten. Allerdings vorerst nur testweise, begrenzt auf maximal drei Jahre. Weitere Details verschweigt Spaniens Regierung noch, immerhin steht die Finanzierung: Das Geld für das Experiment fließt aus dem Corona-Fonds der Europäischen Union.
Weniger Arbeit, mehr Arbeitsplätze
Errejos Partei will mit der Vier-Tage-Woche Arbeitsplätze schaffen. Das mag befremdlich wirken, der Idee liegt aber simple Arithmetik zu Grunde: Wenn mindestens fünf Arbeitnehmer:innen auf einen Tag Arbeit pro Woche verzichten, entsteht eine neue Vollzeitstelle. Die Arbeitszeit zu kürzen ist somit schlichter Pragmatismus. Im Land der tradionellen Siesta arbeiten die Spanier:innen mit 37,5 Wochenstunden längst mehr als der EU-Durchschnitt. Trotzdem sind sie weniger produktiv als ihre Kolleg:innen im Ausland.
Jobs kann das Land im Süden Europas also gut gebrauchen. Spanien kämpft seit der Eurokrise 2015 mit hoher Arbeitslosigkeit. Nach einem kurzen Positivtrend verschärft sich das Problem seit Corona wieder. Im Juli 2021 hatten 14,3 Prozent der Spanier:innen im erwerbsfähigen Alter keine Arbeit – viermal mehr als in Deutschland, wo die Arbeitslosenquote im gleichen Zeitraum bei 3,6 Prozent lag. Und gerade junge Leute zwischen 15 und 24 Jahren finden keinen Job: Spanien ist nach Griechenland das EU-Mitglied mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit, mehr als jede:r dritte junge Spanier:in ist arbeitslos. Die Vier-Tage-Woche, so hofft Más País, soll deshalb vor allem der Jugend zugutekommen, die, wenn sie erwerbstätig ist, nicht selten zehn oder gar elf Stunden pro Tag arbeitet und auf befristeten Verträgen sitzt.
Zudem sollen die Löhne trotz Arbeitszeitverkürzung nicht sinken. Auch bei verlängertem Wochenende können die Arbeitnehmer:innen weiterhin dasselbe Gehalt beziehen wie zuvor in der Fünf-Tage-Woche. Das entspräche einer Lohnsteigerung um 20 Prozent, wovon junge Spanier:innen ebenso profitieren sollen wie Geringverdiener:innen. Die damit verbundene Hoffnung: ein fast vollständig in den Konsum gestecktes Lohn-Plus, was wiederum die Wirtschaft ankurbelt. (Und Keynes sicherlich freuen dürfte.)
Blick in den Norden
Geleitet werden soll das Vier-Tage-Experiment in Spanien von einer Expert:innen-Gruppe, bestehend aus Unternehmer:innen, Politiker:innen und Gewerkschafter:innen. Mit der Coronakrise sei der ideale Zeitpunkt für den Testlauf gekommen, argumentiert Más País: Durch die Pandemie müsse man sich ohnehin umstellen und an neue Umstände gewöhnen – warum dann nicht auch in der Arbeitswelt nachjustieren? Das geschehe immerhin schon stellenweise, berichtet der britische Guardian: Der spanische Softwarehersteller Delsol führte 2020 die Vier-Tage-Woche ein. Seitdem meldeten sich die Mitarbeiter:innen seltener krank, seien produktiver und zufriedener mit ihrer Arbeit.
Eine derartige Entwicklung deutet auch ein anderes Vier-Tage-Experiment an: Zwischen 2015 und 2019 probierten ein Prozent aller isländischen Arbeitnehmer:innen es mit der kurzen Vollzeit. In Island wurde der positive Effekt ebenso offenbar: verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weniger Stress und Burnouts, mehr Zusammenhalt im Unternehmen, fairere Führungskräfte, stärkeres Gefühl von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Ein weiterer Befund wird die Arbeitgeber:innen in Spanien besonders freuen: Die Isländer:innen büßten keine Produktivität ein. Im Gegenteil, ihre Leistung blieb stabil oder verbesserte sich sogar aufgrund der gestiegenen Zufriedenheit.
Weniger Arbeit, mehr Freizeit, ohne Wohlstandseinbußen: Vielleicht sind wir Keynes‘ Traum doch näher als es scheint.