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Die Obsession mit dem Zusammenbruch

Von Alex Favalli / 19. April 2023
picture alliance / Zoonar | GRAZVYDAS JANUSKA

Zugegeben, es gibt leichtere Kost. Aber es geht um den Versuch einer Annäherung anhand der Ideologie des Kollapses – und warum nicht alles wahr ist, was wir glauben sollen.

Klimawandel, Pandemie und Krieg erschweren die optimistische, vertrauenswürdige Aussicht in die Zukunft. „Katastrophe“ und „Apokalypse“ sind derzeit die großen Schlagwörter. Etwa bei den Klimaaktivist*innen Letzte Generation oder der radikalen Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion, die zuletzt mit ihren Aktionen für Aufsehen und Diskussion sorgten.

Kulturell ist das angebliche Ende der Zivilisation nicht zu übersehen. Denkt man an die Netflix-Produktion „Don’t look up“ mit 111 Millionen Streamingstunden allein in der ersten Woche, das Videospiel „Death stranding“ – fünf Millionen verkaufte Kopien in den ersten fünf Monaten – oder die jüngst erschienene HBO-Serie „The last of us“, die mit 5,7 Millionen Premierenzuschauer*innen den Allzeitrekord brechen konnte, wird klar: Post-apokalyptisches Storytelling ist ein Rezept für garantierten Erfolg.

Das Narrativ der unumkehrbaren Katastrophe ist eine Konstante der Menschheitsgeschichte. In der biblischen Offenbarung des Johannes, im Kalender der Mayas, von Kaiser Otto III. um das Jahr 1000 oder in Luthers Thesen wurde bereits mehrmals das Ende der Welt beschworen.

Mit der Aufklärung Ende des 17. Jahrhunderts in Europa erreichte die Erzählung eine neue Qualität: jene der Wissenschaft. Thomas Malthus, britischer Ökonom und Demograph, war um 1800 der „wissenschaftlichen“ Auffassung, eine Überbevölkerung führe zwangsläufig zu einem Ressourcenmangel und dementsprechend zur Implosion der Gesellschaft. Offensichtlich lag er falsch. Doch auf dem Grundstein, der im späten 18. Jahrhundert gelegt wurde, werden heute fragliche Theorien aufgebaut. Man vertraut darauf, dass Spekulationen dieser Art einen Funken Wahrheit in sich tragen müssen.

Milliardäre und ihre Sorge um die Menschheit

Die Universität Cambridge eröffnete 2012 das Centre for the Study of Existential Risk (CSER), 2015 wurde in Frankreich das weltweit erste Institut für Kollapsologie (frz.: Momentum Institute) gegründet. So legitim die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit künftigen Gefahren sein mag, es lohnt ein Blick hinter die Kulissen. Nicht nur stammt ein Großteil der Spenden von christlichen Stiftungen, auch Prominente, etwa Elon Musk, sind beim CSER Teil des Beratungsgremiums.

Warum interessieren sich vor allem milliardenschwere Tech-Unternehmer wie Alibaba-Gründer Jack Ma, Bill Gates oder eben Musk für den gesellschaftlichen Kollaps? Das Ganze ähnelt eher einer Marketingstrategie für willkommene Investitionen: ein Ticket zum Mars, automatisierte Logistik oder High-Tech-Lösungen gegen den Klimawandel.

Nicht wenige Wissenschaftler*innen widersprechen und weisen darauf hin, dass der Rückgang der Weltbevölkerung aufgrund steigender Prosperität stattfinde, keineswegs aber wegen Ressourcenmangel. Eltern bevorzugten demnach, ein bis zwei Kindern einen längeren Bildungsweg und eine materiell sicherere Existenz zu ermöglichen, als das zur Verfügung stehende Kapital auf drei oder vier Nachkommen aufzuteilen.

Der Franzose François Hartog vertritt aus philosophischer Sicht aktuell die Theorie, dass “Kollapsologie“ im Grunde nichts anderes als die Gegenwart beschreibe. Im zweiten Schritt würde die negative Form aus ihrer Komplexität isoliert, um zum Schluss zu kommen, dass nichts getan werden kann, außer dem Ende als Zuschauer*innen beizuwohnen. Anders ausgedrückt, es geht um die Entpolitisierung des Politischen.

Der Agrarökonom Pablo Servigne schrieb seine Dissertation über die Zusammenarbeit von Ameisen, bevor er mit Beststellern und Vorträgen zur Nutzlosigkeit von menschlicher Kooperation im Ernstfall eine bemerkenswerte Karriere als Autor aufbaute. 2017 datierte er den zivilisatorischen Zusammenbruch auf 2020.

Eingetreten ist eine globale Pandemie, aber keine endgültige Katastrophe. Für Servigne hatte seine Fehleinschätzung kaum negative Auswirkungen. Im Gegenteil: Es scheint, als wäre es Kalkül gewesen, erschienen 2020 doch plötzlich zwei Bücher mit den Titeln „How everything can collapse: A manual for our times“ sowie „Another end of the world is possible“. Doch wirklich Neues ist hier nicht zu erkennen. Vielmehr erinnern die Titel an das 2005 erschienene Buch des US-amerikanischen Evolutionsbiologen und Biogeografen Jared Diamond „Kollaps: Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“.

Der Widerspruch der Ideologie vom Kollaps

Kollapsologie rechnet damit, dass ihr paradoxes Spiel nicht auffällt: Einerseits könne man nichts tun, die Politik (oder Demokratie) hätte versagt. Andererseits, so wird argumentiert, hätte die Wissenschaft die Lösung parat. Wohlgemerkt zum Schnäppchenpreis einer kleinen (Buch) oder einfach nur unvorstellbar großen Summe (Marsflug) Geld.

Laut einer Umfrage der Denkfabrik Jean Jaurès Fondation geht diese Rechnung auf dem europäischen Markt auf, wo inzwischen 71 Prozent der Italiener*innen und 65 Prozent der Französ*innen dem Statement zustimmen, dass die „Zivilisation, wie wir sie kennen, in den nächsten Jahren zusammenbrechen wird“. In Großbritannien liegt der Wert bei 56 Prozent, gefolgt von den USA mit 52 Prozent. Im Vergleich werden die Zeiten hierzulande mit nur 39 Prozent Zustimmung als erstaunlich gut wahrgenommen.

Der Zusammenhang zwischen dem Zukunftspessimismus einer Gesellschaft und deren wirtschaftlichem Zustand scheint zu bestehen. Das Misstrauen in die Zukunft „begeistere“ konkret Menschen aus der Mittelklasse, erklärt der Soziologe Bertrand Vidal, der die Kollapsologie scharf kritisiert. Über die Mittel müsse man überhaupt erst verfügen, um eine radikale Lebensveränderung ins Auge fassen zu können.

Eine Mittelklasse lässt sich im Zweifel von Tech-Milliardären dazu verführen, vom Ende der Welt regelrecht zu träumen. Man vertraut darauf, früher oder später an anderer Stelle im Universum eine Fortsetzung der eigenen erlebbaren Daseinsform zu ermöglichen. Andere, die sozial darunter stehen, befinden sich ohnehin im täglichen Survival-Mode gegen ihre soziale Benachteiligung und sind für die Apokalypse nicht zu haben, weil man sie sich eben nicht leisten kann. In gewisser Hinsicht alles beim Alten also.

Eine Antwort zu “Die Obsession mit dem Zusammenbruch”

  1. Von Michael Bouteiller am 22. März 2024

    Vielleicht ist es nützlich, sich näher mit den Fragen zu befassen, die anstehen:
    https://www.theissue.io/r/317fa93c?m=082f95f9-fcec-406f-a3be-3cf6bddee88f
    Grüße
    MB

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