Miteinander reden, Minister Friedrich!
Dieser Tage veröffentlichte das Innenministerium die Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“, worauf wir sogleich einen völlig vorhersehbaren Schlagabtausch der verschiedenen Parteien, befördert durch die Medien, beobachten konnten. Nun sind weit über 700 Seiten nicht jedermanns Sache. Aber auch die Zusammenfassung ist weit differenzierter als das, was dann letztlich in den Schlagzeilen hängen blieb. Sie […]
Dieser Tage veröffentlichte das Innenministerium die Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“, worauf wir sogleich einen völlig vorhersehbaren Schlagabtausch der verschiedenen Parteien, befördert durch die Medien, beobachten konnten. Nun sind weit über 700 Seiten nicht jedermanns Sache. Aber auch die Zusammenfassung ist weit differenzierter als das, was dann letztlich in den Schlagzeilen hängen blieb. Sie beginnt mit:
Es gibt nicht eine muslimische Lebenswelt in Deutschland, sondern zahlreiche ambivalente. Ebenso sind die Beziehungen zwischen der deutschen, nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft und den in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslimen vielschichtig.
Ambivalent, vielschichtig … Das scheint das Innenministerium, die Medien, meinem alltäglichen Erleben nach uns als Gesellschaft zu überfordern. Eigentlich ist es ja ganz einfach: Genauso wenig, wie in Deutschland ein Katholik dem anderen gleicht, gleicht eben ein Muslim dem anderen. Ich will kulturelle Prägungen nicht leugnen. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir miteinander nicht gut weiterkommen, wenn wir immerzu versuchen, das Gegenüber in Schubladen zu stopfen. Vor allem nicht, wenn damit „hidden agendas“ gefüttert werden sollen.
Und ich fasse mich an die eigene Nase: Einer meiner Studenten in Marokko, den ich anfangs als maximal desinteressiert wahrnahm, machte immense Fortschritte im Verlauf des Semesters, als wir erst mal ein paar grundsätzliche Missverständnisse zwischen uns bereinigten. Das waren zwar keine im strengen Sinne religiös, aber durchaus kulturell begründeten Missverständnisse – und von uns beiden durchaus mit Vorurteilen verknüpft. Richtig baff war ich, als er folgenden Beitrag in der Facebook-Gruppe unseres Public Relations-Kurses postete.
Denn eine Frage war mir vor meiner Abreise nach Marokko immerzu gestellt worden: Ob ich mit „der Rolle der Frau“ dort denn wohl zurecht kommen würde:
„Die Rolle als Frau“ gibt es in Marokko genauso wenig wie in Deutschland. Und auch, wenn ich nicht leugnen will, dass es dort z.B. fast doppelt so viele weibliche wie männliche Analphabeten gibt und daher trotz der 2004 rechtlich beschlossenen Gleichstellung von Frauen und Männern noch richtig viel Arbeit wartet – es ist auch in der westlichen Welt nicht alles zum Besten bestellt, siehe das stereotype Schönheitsideal und unsere endlosen Diskussionen um Frauenquoten.
Mir hat die Begegnung mit Khalil einmal mehr gezeigt, dass ich den Menschen vor mir sehen und nicht meine internen Schubladen scannen sollte. Als wir das erst mal hinbekommen haben, entstanden Sympathie, Wertschätzung und Neugierde auf diese andere Welt und ihre Sicht der Dinge. Und bei uns beiden die Motivation, in dem Kurs eine produktive, gute Zeit zu haben. Der Ansteckungsfaktor war enorm: Nie zuvor hatte ich solch motivierte Studierende und wir alle eine super Zeit bei einer steilen Lernkurve, inklusive meiner eigenen.
Der zweite Absatz der Wissenschaftler/innen in der Zusammenfassung lautet:
Die Untersuchung zeigte, dass sich alle in Deutschland lebenden Generationen von Muslimen mehrheitlich deutlich vom islamistischen Terrorismus distanzieren. Allerdings erleben sie eine Pauschalverurteilung der Muslime als Terroristen und eine zu vorschnelle Verknüpfung des Islams mit dem Terrorismus.
Dieser Absatz hebt das, was ich oben im Kleinen erlebt und geschildert habe, auf eine weitreichendere und damit auch bedrohliche Ebene. Um es ganz einfach auszudrücken: Wenn ich das Gefühl habe, dass ich ohnehin abgelehnt, gar verachtet werde, ist der Schritt zur Ablehnung der Gegenseite vergleichsweise klein. Interesse an der Person, Wertschätzung dessen, was man an ihr mag und Kritik an dem, womit man Probleme hat, hingegen machen diesen Schritt unwahrscheinlicher. Ich behaupte nicht, dass der islamistische Terrorismus allein aus dem Gefühl der Missachtung entstanden ist – aber wir befördern ihn, wenn wir in unserem Alltag Missachtung erkennen lassen. Sei es durch Blicke, Worte oder Gesten.
Heißt im Klartext: Miteinander reden – auch, wenn man sich erst mal fremd vorkommt. Spannender wird das Leben in jedem Fall.