Das Schweigen zum Sprechen bringen
Sich anderen nicht offenbaren zu können, hat oft ein Gefühl der Vereinsamung und soziale Isolation zur Folge. Doch selbst wer sein Schweigen bricht, stößt manchmal auf taube Ohren.
„Das ist ein Geheimnis und Geheimnisse bringen uns oft um“ – ist ein Satz, der in mir nachhallt. Er stammt aus „Die Tribute von Panem“. In der Serie wird eine zukünftige Gesellschaft imaginiert, in der die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird und das Schicksal der Menschen im gegenseitigen Totschlag vereint scheint, während das machthabende System auf beidseitigem, tiefem Misstrauen aufbaut. Darin drückt sich für mich eine Fiktion aus, die unserer Realität inzwischen sehr nahe kommt.
Bereits Kinder verstehen es, Geheimnisse zu wahren. Auch solche, von denen Gefahr ausgeht. Andere entkommen der Stille und wenden sich nach außen, auf der Suche nach Hilfe. Der 21-jährige Leo blickt auf eine Verlustgeschichte aus frühester Jugend zurück, als seine beste Freundin Teil einer fundamentalistischen Gemeinde wurde. Anstatt sich über die Situation in Schweigen zu hüllen, wandte er sich an Eltern, Freund:innen und Organisationen, erzählte von seinen Sorgen um seine Freundin. Ernst nahm ihn scheinbar niemand. Ihr Schicksal war anderen nicht der Rede wert.
„Wenn man klein ist, sind die Großen der moralische Kompass. Sie wissen, was richtig ist und verurteilen, was falsch ist.“ Leo hat nie den Glauben aufgegeben, dass seine Freundin hätte gerettet werden können. Dass sie durch Aufklärung, Halt und Empathie der Gesellschaft nicht in ein dogmatisches System hineingerutscht wäre. Das Gefühl der Hilflosigkeit ließ ihn aber irgendwann seinen Kampf für seine Freundin aufgeben. Ihn überkam eine Welle der Ohnmacht, die ihn weder Trauer noch Erleichterung spüren und schließlich verstummen ließ, wie er sagt.
Schweigen, um Teil eines Kollektivs zu werden
Sprichwörter lehren uns, dass über Geld nicht gesprochen werden solle und Schweigen Gold sei. Dadurch entstehen Geheimnisse, die das Verschwiegene als nicht existent erscheinen lassen. Ein Trugschluss, der das Unbehagen damit zu einer persönlichen Angelegenheit einzelner Betroffener werden lässt.
Nehmen wir die Verschwiegenheitsklauseln am Arbeitsplatz. Sie ermöglichen, dass innerhalb einer Firma objektiv nicht nachvollziehbare Gehaltsunterschiede bestehen. Zwar sind derartige Klauseln illegal, dennoch gelten diese als Vertrauensbekundungen und deren Bruch geradezu als Hochverrat. Ein solches Schweigeversprechen abzugeben, ist dabei eine Methode, anerkannter Teil einer Gemeinschaft und eines Kollektivs zu werden.
Über ein Jahr lang begleitete ich Menschen wie Leo, die ihr Leiden verschwiegen und es schließlich brachen, um zu verstehen, welchen Einfluss das Schweigekonstrukt auf ihre Gegenwart hat und um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie alle taten sich schwer damit, Vertrauen aufzubauen und Sicherheit im Teilen ihrer Erfahrungen zu schaffen.
Geheimnisse gehen oft mit Vergessen und Verdrängen einher. Leute wie Leo sagen, sie hätten ihre Kindheit früh verloren. Sie hätten ihre nachdenklichen, manchmal melancholischen Gedanken vor Gleichaltrigen verbergen müssen.
Leo erzählt, wie seine Geschichte nach jahrelangem Schweigen in Vergessenheit geraten schien. Rückblickend sagt er: „Es fällt schwer. Zunächst, weil diese Zeit schon lange vergangen ist und Erinnerungen verblassen, wenn sie nicht aufgefrischt werden. Du kannst deine Erinnerungen aber nur mit denen auffrischen, mit denen du sie geschaffen hast“. Er ist überzeugt, dass enge Angehörige nicht wahrhaben wollen, wie schlecht es ihm damit noch immer gehe.
Maskenhafte Inszenierung
Es werden Lügensysteme geknüpft, um den Schein einer perfekten Welt zu wahren. Wir können bei Kindern beobachten, dass sie Schulkamerad:innen nicht zu sich nach Hause einladen, wenn ihnen soziale Klassenunterschiede und ihre unterprivilegierte Stellung darin erstmals bewusst werden und sie deshalb versuchen, ihre Herkunft zu verbergen. Viele Scheidungskinder sind fähig, sich den Erwartungen und Vorstellungen ihrer Eltern anzupassen. Das heißt, nach außen hin verbergen sie den familiären Konflikt, indem sie positive Dinge wie doppelte Geschenke oder Familienfeiern in den Vordergrund stellen.
Das Ganze gleicht einer Inszenierung. Man versteckt sich hinter einer Maske. Selbst im engsten Kreis werden bestimmte Themen vermieden und Dialoge auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner geführt, um potenzielle Konflikte zu vermeiden. Doch was macht das mit uns? Für Leo steht mittlerweile fest, dass das individuelle Schweigen Voraussetzung für das kollektive sei.
Für mich ist darüber hinaus klar: Wer sich nicht mitteilt, überlässt die anderen ihrer Ahnungslosigkeit. Aber er bringt sich womöglich auch selbst in Gefahr.