Projekt “Mehrgenerationen-WG“
Es ist mal wieder soweit. Alles, was ich habe, wartet: in Koffern, Kisten und Tüten verpackt, darauf, in eine andere Wohnung getragen zu werden – mal wieder. Ich bin Sophia und ich ziehe um – mal wieder.
Seit ich vor fast fünf Jahren nach Berlin gezogen bin, habe ich in fünf verschiedenen Wohngemeinschafen gelebt. Zwei davon waren Mehrgenerationen-WGs.
Ende 2020 war ich mal wieder auf Wohnungssuche. Kurz vor Weihnachten hatte ich einen Besichtigungstermin, zu dem zeitgleich drei Leute eingeladen waren, zuhause bei Manfred*, Ende 60 und seit 45 Jahren Hauptmieter der Wohnung.
Die Wohnung war wunderschön. Ein Altbau, der über die Jahre gut instandgehalten worden war. Es gab eine gemütliche Küche, einen Balkon, an dem sich viele Pflanzen aus etlichen Blumentöpfen rankten, jedes Zimmer hatte einen alten, kleinen Kamin. Im großen Wohnzimmer war ein Esstisch gedeckt. Manfred bot uns Lebkuchen und Tee an. Er suchte drei neue Mitbewohner*innen. Mit den letzten hätte er Pech gehabt. Manfred sehnte sich nach einer Gemeinschaft, wie sie hier immer üblich gewesen sei. Aktuell würde völlig aneinander vorbeigelebt.
Wir quatschten über zwei Stunden. Im Februar zog ich ein, ein Jahr später im März, nach vielen Grundsatzdiskussionen und sehr frustriert, wieder aus. Auch die anderen Mitbewohner*innen hatten zu diesem Zeitpunkt schon gekündigt.
Win-win-Situation?
Eineinhalb Jahre später war ich erneut auf Wohnungssuche. Fündig wurde ich bei Uwe*, Mitte 60. Er stellte sich als Musiker und Autor vor. Bei Uwe ging es schneller. Bereits nach zwei Wochen hatte ich Zweifel an meiner Entscheidung. Meine Erfahrungen bei Manfred hatte ich für einen Einzelfall gehalten. Außerdem war wieder die Wohnung schön, die Lage gut und der Preis stimmte. Und ich brauchte eben ein Dach über dem Kopf. Als dann dieselben Auseinandersetzungen zum vierten Mal binnen zwei Wochen aufkamen, fasste ich den Entschluss, auszuziehen.
Adressen wie Berlin sind für Suchende wie mich ein Albtraum. Wohnungen mit 30 anderen Leuten gleichzeitig zu besichtigen oder erst gar keine Antwort auf Bewerbungen zu erhalten, ist an der Tagesordnung. Und eine eigene Wohnung muss man sich erst einmal leisten können. Der durchschnittliche Mietpreis pro Quadratmeter liegt in Berlin aktuell bei 17,64 Euro. Damit steht die Hauptstadt knapp vor der Wirtschaftsmetropole Frankfurt am Main (17,38 Euro). Nur Bayerns Aushängeschild München ist noch teurer (21,01 Euro). Eine 40 Quadratmeter kleine Wohnung kostet bei diesem Preisniveau monatlich 840,40 Euro kalt.
Eine Mehrgenerationen-WG scheint da wie eine Win-win-Situation. Ältere Leute können ihre Wohnung halten, in der sie schon lange zuhause sind. Bei Manfred und Uwe reichte die Rente nicht, um die ganze Wohnung weiter allein zu finanzieren. Beide lebten so lange in ihren vier Wänden und zu vergleichsweise günstigen Mietkonditionen, dass sie auf dem heutigen Berliner Wohnungsmarkt für das gleiche Geld nicht einmal eine Einzimmerwohnung bekommen würden. Neue Mitbewohner*innen, die mit einziehen und Miete zahlen, kommen als Problemlösung da gerade recht. Im Gegenzug bekommen sie eine Wohnung in gutem Zustand, in der nicht jeder Teller ein eigenes Design hat und alle Möbel schon dreimal notdürftig repariert wurden.
Falscher Putzlappen
Bei Manfred hatten die Probleme wenige Monate nach meinem Einzug begonnen. Einer der Mitbewohner war ihm zu unordentlich. Irgendwann unterstellte er ihm, das absichtlich zu machen, ihn provozieren zu wollen. Manfred entschied deshalb, dass der Mitbewohner ausziehen müsse. Wir beiden anderen wurden nicht gefragt.
Mit der Zeit stellte sich heraus, dass man in der Wohnung so einiges falsch machen konnte. Der Wasserhahn musste in eine bestimmte Richtung zeigen, um nicht „im Weg zu sein“; man konnte den Mülleimer zu fest schließen und mit dem falschen Lappen putzen. Für die meisten Dinge in der Wohnung gab es keine bessere Lösung als die etablierte. Wenn man widersprach, entgegnete Manfred: „Willst du etwa sagen, ich lüge?“
Gemeinsame Zeit fand sehr ausgewählt statt. Ein Filmabend, bei dem Manfred am Ende die gesellschaftliche Bedeutung des Films erklärte. Ein Abendessen, bei dem er uns ein Rezept beibrachte. Eine Stadttour, die er leitete. An unseren Aktivitäten wollte er nicht teilnehmen. Plätzchenbacken war ihm zu kindisch, eine Party mit Bademantel-Motto zu spießig, ein Spieleabend zu langweilig. Gegen Ende des Jahres beschwerte Manfred sich, dass wir keine Zeit miteinander verbringen würden.
Keine Hierarchien
Bei Uwe war es ähnlich. Er hatte war viel zuhause und wollte oft Gespräche führen. Die Themen gab meistens er vor oder lenkte sie in eine bestimmte Richtung. In Diskussionen über das Zusammenleben wurde jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Zu einem Mietvertrag war es nach fünf Monaten immer noch nicht gekommen, weil Uwe diesen gemeinsam aufstellen wollte. Nach jedem Gespräch fielen ihm im Nachgang weitere Einwände ein. Am Anfang hatte er noch betont, wie wichtig es ihm sei, in der WG keine Hierarchien zu haben. Als ich ihm sagte, dass ich ausziehen wolle, warf er mir vor, ihn nicht von Anfang an in meine Zweifel eingeweiht zu haben, und verlangte von mir, innerhalb von vier Wochen auszuziehen. Jetzt, gute zwei Wochen später, ziehe ich aus.
Nur negativ blicke ich trotzdem nicht auf die WGs zurück. Vor allem bei Manfred hatte ich insgesamt eine gute Zeit. Mit den anderen Mitbewohner*innen bin ich bis heute befreundet. Dass Mehrgenerationen-WGs generell nicht funktionieren, glaube ich nicht. Ich ziehe nur erstmal in keine mehr.
*Name geändert