Stark genug, um schwach zu sein
Die Fußball-EM wird Helden hervorbringen. Jene Protagonisten, die durch Außergewöhnliches auffallen. Doch wer beweist tatsächlich Stärke und wie kann ein neues Bewusstsein dafür einen gesamtgesellschaftlichen Mehrwert bieten?
Ganz schön martialisch und mittelalterlich kommen Definitionen des Heldentums daher und lassen sich sehr gut auf die Welt des Sports projizieren. Das Spielfeld des sportlichen Wettstreits wurde vielfach mit einem Ort des kriegerischen Handelns verglichen, einem Schlachtfeld also, um den Ursprung der Heldenschmiede zu beschreiben. Doch was oder wer entscheidet wirklich darüber, wann jemand zum gefeierten Starken wird? Und wer ist schon stark?
Eine Verknüpfung, die in dem Zusammenhang des Verbergens von Schwäche als absolut galt, ist die zum männlichen Geschlecht. Als „toxisches Männlichkeitsgetue“ wies hingegen Fußballer Fabian Reese das ständige Verbergen von Schwäche in einem Interview mit der ZEIT im November 2023 zurück. Er wolle damit nichts zu tun haben und einfach der sein, der er ist, und dazu zählen nun mal auch Schwächen. So weit, so menschlich. Reese erntete für seine Offenheit im Umgang mit emotionalen Verletzlichkeiten Anerkennung, gilt als nahbarer Fanliebling seines Vereins Hertha BSC. Mehrheitlich gemessen wird er weiter für das, was er auf dem Platz zeigt und dabei im idealen Fall auch über andere triumphiert. Der 26-Jährige kann daher, so wie andere seiner Zunft, nur durch überzeugende Leistung auf dem Rasen zum sportlichen Helden werden. Durch Äußerungen in den Medien gelingt das eher weniger.
Um die gesellschaftliche Rolle von Athleten langfristig, ja, nachhaltig gestalten zu können, bedarf es eines Umdenkens. Einem Mehr an Verantwortung und Achtsamkeit.
Schmerzkult: eine toxisch-männliche Beziehung
In welch beklemmender Lage Spitzensportler zu stecken scheinen, um den Schmerz und die eigene Schwäche zu unterdrücken, zeigt eine investigative Recherche der ARD-Dopingredaktion in Zusammenarbeit mit CORRECTIV aus dem Jahr 2020. „Geheimsache Doping – Hau rein die Pille“ löste eine Debatte über extensiven Konsum von Schmerzmitteln in der Gesellschaft, vor allem aber im männlichen Profi- und Amateurfußball aus. Die Dokumentation zeigt, wie sich Spieler unter der Erwartung des Stark-Sein-Müssens physisch und psychisch zermürben lassen und dabei langfristige Schäden in Kauf nehmen. Am Spielfeldrand solidarisiert man sich dahingehend nur bedingt. Solange das Individuum auf dem Feld zu performen weiß, werden Verletzungen wie die Schulter Manuel Neuers 2022, schnell zur „Schulter der Nation“ deklariert. Raum für Verständnis ist in so einer Beschreibung wenig gegeben, vielmehr geht es um eine grundlegende Erwartung. Darum, bildlich gesprochen, auch am Boden weiterzukämpfen.
Eine weitere ARD-Produktion, welche zur anstehenden Heim-EM jüngst die legendäre Weltmeistermannschaft von 2014 würdigte, huldigt Bastian Schweinsteigers Einsatz im Turnier und besonders dem Finalspiel trotz Verletzung auf eine perfide Art und Weise. Offen wird dabei über Spritzen, Schmerzen und die offensichtlich fehlende Gesundheit berichtet. Der Heldenkult um Schweinsteigers Auftritt im WM-Endspiel suggeriert ein Aufopfern seiner selbst, nach vorbildhaftem Charakter. Dass diese Art von Sporttreiben ein Extrem ist und von Grund auf nichts Erstrebenswertes, zeigt der Film und viele weitere Erzählweisen über das Finale im Maracanã-Stadion von Rio nicht.
„Zeit, dass sich was dreht!“
Nicht ohne Grund bleibt die Art, auf sportliche Heldengeschichten zu blicken, deshalb meist einseitig. Schnell landet man(n) dabei wieder beim Erklärungsversuch. Doch der ständige Blick und das Bemessen nach Grad des Altertümlichen kann einer modernen Gesellschaft weder bei der Frage nach dem Ursprung noch zur Entwicklung verhelfen.
„Als Spieler wird einem suggeriert, dass der Fußball eine Art Kampfsport sei“, sagt der von 1994 bis 2008 aktive Profispieler Pablo Thiam, der unter anderem beim FC Bayern München spielte. „Man soll seinen Mann stehen und darf kein Weichei sein. Mit diesen Werten wird man groß“, so der 50-Jährige bei einer Podiumsdiskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung im Mai.
Wie eine Zivilgesellschaft auf ihre Sportler blickt, sagt vieles über sie selbst aus. Was wir unserem Gegenüber zumuten oder es ihm wenigstens freistellen, aushalten zu können, spiegelt sich auch, vielleicht sogar gerade hier, in mutmaßlich staatstragenden Momenten wie einem WM-Final wider. Nichts anderes als stark sein hätte er gekonnt, der Bastian, so der damalige Tenor im Volk. „Ohne Fleiß kein Preis“ wäre wohl der passende billige und ebenso verrostete Alltagsspruch dazu. Wirklich zutreffend ist der darin enthaltene neoliberale Ansatz – das ständige Profilieren seiner selbst – nicht wirklich. Die wenigsten werden ein Spiel um eine Weltmeisterschaft je bestreiten dürfen, andere wollen es gar nicht und nicht wenige sehen Wettbewerbe wie diese ohnehin als albern an, da ihre Kämpfe ganz woanders ausgetragen werden müssen.
„Wir bilden so viele Profis aus, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass das vernünftige Menschen werden“, befindet Thiam bei der Diskussionsrunde weiter, welche die „Vielfältigkeit“der EM zur Thematik hatte. Am besten solle man „damit schon in Kitas und Schulen anfangen“, so Thiam. Oder mit Herbert Grönemeyer gesprochen beziehungsweise gesungen: „Zeit, dass sich was dreht!“
Für den ehemaligen deutschen Nationalspieler und Sportfunktionär Thomas Hitzelsberger, der ebenfalls Teil der Runde war, heißt das konkret: die Auseinandersetzung mit „Themen wie Homofeindlichkeit, Rassismus und Sexismus in den Nachwuchsleistungszentren zu etablieren“.
Übrigens: 61 Prozent der Bundesbürger befürchten an Überlastung zu erkranken. Dabei trifft immer mehr junge Menschen ein Burn-out; die meisten von ihnen sind Männer. Denen wäre wohl eher damit geholfen, auch mal Schwäche zuzulassen, um nicht dauerhaft auf der Auswechselbank zu landen. Die Heroisierung von Dauerschmerz ist nämlich nichts anderes ein gefährliches Spiel von Verlierenden.