Siehst du mich?
Psychische Krankheiten in Filmen werden in der Regel falsch dargestellt. Die Dramaturgie profitiert davon, doch die Betroffenen zahlen den Preis. Das „GoMental!“-Filmfestival in Berlin arbeitet daran, dieses Verhältnis umzudrehen.
Im Weinbergspark im Prenzlauer Berg sitzen die Leute in Kleingruppen unter der Sonne, Schweiß und Sonnenbrillen glitzern von weitem. In den Restaurants entlang der Veteranenstraße ist kein Tisch mehr frei. Die Temperaturen kratzen selbst um 18 Uhr an der 30-Grad-Grenze. Berliner/innen an solchen Abenden zu überreden, sich in einen Kinosaal zu setzen, scheint eine Unmöglichkeit zu sein.
2020 erstmals veranstaltet, geht das von großen Produktionsfirmen internationale „GoMental!“-Filmfestival vom 15. bis 18. Mai in die vierte Runde und der erste Eindruck verrät, dass seine Anziehungskraft doch stärker als das Wetter draußen ist. Inhaltlich dreht sich an vier Abenden alles um eine entstigmatisierte Darstellung seelischer Gesundheit im Indie-Filmuniversum.
„Manchmal kommt es gelegen, Gewalt durch psychische Krankheiten im Drehbuch zu rechtfertigen“, sagt Festivalgründerin Elisabeth Staak. „Es ist sehr einfach, mit Klischees zu arbeiten, weil das halt funktioniert. Das tut es aber nur, weil es eben ein Klischee ist und das Publikum damit schon vertraut ist.“ Dieses Muster zu durchbrechen und das Verständnis des Publikums für seelische Gesundheit zu beeinflussen, sei die Mission des Festivals.
Kaleidoskop der Empathie(losigkeit)
Vor einem gut gefüllten Saal im Berliner Programmkino ACUD, eröffnet am Mittwochabend Boris Beimann, Auftrittscoach unter anderem beim Deutschen Filmpreis, das Festival mit einer Frage nach Verbundenheit. Dabei bezieht er sich nicht auf das WLAN, wie er spitz bemerkt, sondern auf die eigenen Gefühle und die der Mitmenschen.
Die ersten beiden Abende präsentieren jeweils sechs Kurzfilme in insgesamt acht Sprachen aus Deutschland, Belgien, Italien, Litauen, Großbritannien, den Niederlanden, Norwegen, Österreich und der Schweiz. Mit dabei sind vor allem Spielfilme, aber auch Dokumentationen, die mit einer durchschnittlichen Länge von 15 Minuten hauptsächlich durch ihre pointierte Essenz überzeugen.
Obwohl in Stil und Inhalt zutiefst divers, bilden Themen wie das der eigenen Sichtbarkeit oder die scheinbar unüberwindbare Mauer, die psychisch kranke Menschen von ihrer Umwelt isoliert, einen kohärenten roten Faden: Auch wenn Betroffene den Mut finden, nach Hilfe zu rufen, werden sie häufig nicht gehört. Oder ignoriert. Ihre Gefühle überfordern auch ihre Nächsten oft. Jeder Film beschäftigt sich direkt oder indirekt mit der Frage, ob Empathie eine natürliche Gegebenheit ist, oder ob wir sie erst erlernen müssen. Die Drehbücher, in denen positive Zwischenmenschlichkeit das Narrativ dominiert, sind jedenfalls Manifeste dafür, dass die hohen Mauern sehr wohl durchbrechbar sind, gerade im Kino.
Emotionale Vernachlässigung von Kindern, Angst, Posttraumatisches Stresssyndrom, an Armut psychisch erkranken – das Gewicht der Ernsthaftigkeit der Filme drückt trotz oder aufgrund der künstlerischen Fähigkeiten die Stimmung im Saal. Die Seufzer aus den Sitzreihen werden häufiger. Pinkelpausen kommen gelegen, um kurz durchzuatmen. Einige behalten ihre Taschentücher zur Sicherheit in der Hand parat. Die Atmosphäre im Saal wird dadurch jedoch intimer und es scheint, als würde die Dunkelheit den Gefühlen erst den Raum geben, den sie benötigen, um sich zu zeigen.
Roadtrips und Politik
Der Filmemacher Diego Marquez leitet am dritten Abend den Langfilm „Ab nach Hause“ (2022) von Victor Kunze ein, der es geschafft hätte, „aus wenig sehr viel zu machen“, so Marquez. Es geht darin um die 22-jährige Gwenda (Helena Houssay), die gemeinsam mit Theo (Jacob Ernst) und Lotta (Stefanie Herzgsell) die Zelte nach einem Festival in Brandenburg abbauen und langsam zurück Richtung Berlin aufbrechen will.
Als ihnen der VW-Bulli gestohlen wird, beginnt für die drei eine Odyssee und für Gwenda eine psychotische Episode. „Versprichst du mir“, fragt ihre Freundin Lotta, „dass du zu Hause wieder in die Klinik gehst?“ Gwenda fühlt sich eingekesselt und sucht die Distanz. Und dennoch – ihre zunehmende Freude verrät, dass sie auf eine ungewohnte, niemals bedrohliche, Art und Weise zu sich selbst findet, bis die Polizei sie abholt.
Victor Kunze ist es mit „Ab nach Hause“ gelungen, die Ambivalenz zwischen einer klinischen Diagnose und einer vielleicht zu angepassten Gesellschaft mit taktvollem Fingerspitzengefühl auf die große Leinwand zu bringen. Was zunächst an ein sommerliches Roadmovie erinnert, entpuppt sich bald als politischer Film. Und lässt an das bekannte Zitat Erich Fromms von 1977 denken: „Die Normalsten sind die Kränkesten, und die Kranken sind die Gesündesten“. Menschen, die krank sind, wären nur Ausdruck dafür, dass das Menschliche in ihnen noch nicht ganz unterdrückt wäre, und dadurch mit gewissen „Mustern der Kultur“ nicht klarkämen. „Glücklich der, der ein Symptom hat.“
Zwischen Networking und Begegnung
Der Großteil der Filme will reale Erfahrungen reproduzieren. So etwa der zweitplatzierte „I’m going mad“ (2024) vom schwedischen Regisseur Matez Garci. Darin geht es um Adam (Matez Garci), der „einen stillen Krieg“ gegen eine psychische Erkrankung führt. Doch dort, von wo er herkommt, aus den „Ghettos“ einer schwedischen Großstadt, wird psychische Gesundheit als etwas für „Weiße Leute“ betrachtet. Ein Problem für Privilegierte also… Als Garci nach dem Film den Preis entgegennimmt, steigen ihm Tränen in die Augen. Er erzählt von Freund*innen, die er aufgrund von Suizid verloren hat. Und von einem Land, in dem Einrichtungen für psychologische Hilfe ausgerechnet in der Peripherie geschlossen werden.
Nach minutenlangem Applaus kommt es im ACUD Kino noch zu vielen Umarmungen und Worten der gegenseitigen Dankbarkeit und Wertschätzung. Es sind sowohl Indie-Filmemacher*innen aus ganz Europa angereist als auch Expert*innen für seelische Gesundheit. Kontakte werden ausgetauscht, man ist fleißig am Networken. Manche stehen am Anfang ihrer Karriere, andere befinden sich mittendrin, niemand am Ende. Die Anzahl auffallend junger Besucher*innen führen zweifellos zu einer positiven Bilanz des Festivals. Trotzdem bleibt das GoMental!-Festival 2024 eine Plattform, in der sich vor allem Filmemacher*innen und Interessierte an seelischer Gesundheit begegnen. Gleichzeitig ist aber ein langsamer zunehmendes Interesse von „Außenstehenden“ festzustellen. Angesichts der Qualität des diesjährigen Programms, wird ein Kinosaal für die nächste Ausgabe wohl nicht ausreichen.