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Die Leben der Anderen

Von Anna Bayer / 28. August 2024
picture-alliance / dpa | Rolf Haid

Tagebücher schreibt man für sich, im Geheimen. Doch für die Nachwelt können sie von großem Wert sein, und zwar unabhängig davon, wie prominent die Person zu Lebzeiten war.

Im Jahr 1633, mitten im Dreißigjährigen Krieg, notierte der Söldner Peter Hagendorf in seinem Tagebuch einen Eintrag zu seiner Frau. „Das Kind ist ihr unterwegs gestorben und sie ist nach etlichen Tagen auch gestorben (…). Gott verleihe ihr und all ihren Kindern eine fröhliche Auferstehung,“ steht da, in einer für uns heute unleserlichen Schrift und in einem fremdartigen Deutsch. Der Historiker Jan Peters fand das unscheinbare Büchlein in der Berliner Staatsbibliothek und hat die Aufzeichnungen glücklicherweise in heutiges Deutsch übersetzt.

Ohne die Notizen Hagendorfs wüssten wir nicht, wie Söldner damals gelebt haben. Sie dienen außerdem als Mahnung an uns heute, wie schrecklich Kriege sind und schon immer waren. So können wir lesen, dass Hagendorfs Frau Anna sich bis zum Zeitpunkt ihres Todes mit ihren Kindern im Tross des Heers befunden hat, das heißt, sie begleitete ihn die ganze Zeit auf seinen Feldzügen. Ein Leben voller Strapazen, das zum frühen Tod ihrer vier Kinder und schließlich auch zu ihrem eigenen führte. Wir wissen auch, wie Hagendorf mordete, brandschatzte und vergewaltigte, denn all das hielt er in seinem Notizbuch fest.

Es sind nicht nur die Aufzeichnungen von bekannten Feldherren, Schriftstellern oder Politikern, die wichtig für uns sind, wenn wir die Vergangenheit verstehen wollen. Besonders interessant kann es auch sein, was einfache Leute über ihren Alltag festgehalten haben.

„Tagebücher von Herr und Frau Jedermann sind wichtig für die Forschung, davon sind wir überzeugt“, sagt Marlene Kayen. Sie ist die Vorsitzende des Deutschen Tagebucharchivs (DTA).
In Emmendingen, 14 Kilometer nördlich von Freiburg im Breisgau, sammelt sie zusammen mit vier festangestellten und knapp 100 ehrenamtlichen Mitarbeitenden unveröffentlichte Tagebücher, Lebenserinnerungen und Briefe von nicht prominenten Personen. Durch schwer leserliche Schreibhefte arbeiten sie sich dort. Mehr als 27.000 Dokumente stellt das Archiv der Wissenschaft zur Verfügung. Viele davon sind bereits digitalisiert. Im vergangenen Jahr haben Forschende mit Hilfe der Tagebücher beispielsweise Hochzeitsreisen, Wissens- und Kulturgeschichte der Schizophrenie und die Kolonialzeit in Deutsch-Ostafrika und Kongo untersucht. Aber auch Romanautoren, die sich über eine Epoche informieren wollen, kontaktieren das Archiv, wie Kayen erzählt.

Das Tagebuch als Freund in der Not

Der Drang, den eigenen Alltag für sich selbst zu dokumentieren, scheint uralt zu sein. Die ersten überlieferten Tagebücher waren assyrische Tontafelkalender aus dem sechsten Jahrhundert nach Christus. Heute sind Dankbarkeits-Journals und Glückstagebücher verbreitet und sollen einen therapeutischen Effekt haben. „Menschen schreiben vor allem dann Tagebuch, wenn es ihnen nicht gut geht“, sagt Marlene Kayen. „Sie wenden sich dann an eine imaginäre Freundin oder einen Freund und haben mit dem Tagebuch ein Medium, dem sie etwas anvertrauen können.“

Auch Anne Frank suchte Trost im Tagebuchschreiben. Im Juni 1942, als sie sich vor der rassistischen Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten in einem Hinterhaus verstecken musste, schrieb sie: „Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.“ Im Versteck, da sind sich Historiker einig, sei es sehr beengt gewesen. Anne Frank, damals 13 Jahre alt, habe sich leise verhalten müssen und oft Angst gehabt. In den zwei Jahren im Versteck habe ihr das Schreiben geholfen, die Tage zu überstehen. 

Veränderte Tagebücher sind keine Tagebücher mehr

Wer Tagebuch schreibt, ist in dem Moment allein mit sich und seinen Gedanken. Sonst wäre es kaum möglich, intimste Wünsche und Ideen festzuhalten. Nach dem Tod werden diese Ausführungen unweigerlich beim Ausräumen der Wohnung gelesen – außer man vernichtet die Hefte vorher. Deswegen ist es auch nachvollziehbar, dass manche Leute ihr Tagebuch ein bisschen frisieren und überarbeiten. Doch dann sind ihre Aufzeichnungen streng genommen keine Tagebücher mehr – sondern autobiographische Lebenserinnerungen.

Solche kann man auch beim Deutschen Tagebucharchiv finden. Die meisten Tagebücher werden zwar von Hinterbliebenen eingereicht, aber es gibt auch Leute, die ihre Notizen selbst abgeben. Sehr zurückhaltend sei Marlene Kayen dann. „Der Stil verändert sich, wenn man daran denkt, dass andere das Tagebuch lesen werden.“ Am liebsten seien ihr Tagebücher aus dem 19. Jahrhundert „weil wahrscheinlich keiner dran gedacht hat, dass die mal gelesen werden“, sagt sie mit einem Augenzwinkern.

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