Die Zeit wächst (nicht) auf Bäumen
Zeit ist begrenzt, unwiederbringlich und unverzichtbar. Wir haben die Wahl: Nutzen wir sie bewusst oder lassen wir sie verstreichen?
„Zeit ist die einzige Währung, die wir ausgeben, ohne unseren Kontostand zu kennen“ – dieser Satz, der in sozialen Medien kursiert, bringt die Essenz unseres Lebens treffend auf den Punkt. Das Ungewisse am eigenen Zeitkonto ist, dass man weder seinen eigenen Kontostand kennt, noch weiß, wann er auf null fällt. Das sollte eigentlich dazu anregen, jeden Moment bewusster wahrzunehmen. Doch stattdessen scrollen wir oft ziellos durch Instagram oder TikTok, ziehen uns Inhalte rein, an die wir uns Minuten später nicht erinnern können. Klar, man hat kurzfristig für ein wenig mehr Dopamin im Körper gesorgt, fühlt sich gut an. Man hat sich amüsiert, vielleicht sogar etwas Interessantes gelernt. Doch meistens hat man langfristig nichts vom Scrollen. Menschen in Deutschland nutzten im Jahr 2023 durchschnittlich 99 Minuten pro Tag Social Media. Nicht wirklich der beste Umgang mit unserer Zeit.
Doch was kann getan werden, damit die eigene Zeit nicht an einem vorbeizieht wie ein Porsche auf der Autobahn? Mindestens 13 Studien belegen, dass ausreichende Bewegung das Leben um mehr als sechs Jahre verlängern kann. Wer sich gesund ernährt, lebt laut einer Studie aus dem Jahr 2023 durchschnittlich knapp neun Jahre länger. Spätestens seit der Corona-Pandemie wissen die meisten, dass auch Einsamkeit krankt macht – und auch eine Stanford-Studie belegt das: Zeit mit Freunden und Familie macht nicht nur glücklich, sondern erhöht auch die Wahrscheinlichkeit eines langen Lebens. Wieso also nicht direkt die beste Freundin oder Oma anrufen? Oder mit ehemaligen Klassenkamerad:innen einen Ausflug planen? Eine Erinnerung ist damit garantiert. Die Lebenszeit fühlt sich weniger vergeudet an als nach dem dritten YouTube-Video oder zwölften Instagram-Reel.
Die Zeit vergeht schneller, je älter wir werden
Neben der wirklichen Lebenszeit in Jahren, spielt auch eine Rolle, wie wir die Stunden, Tage und Monate wahrnehmen. „Die Zeit scheint schneller zu vergehen, wenn wir älter werden, weil wir uns langsamer verändern”, schreibt Psychologin Betsy Holmberg in deinem Artikel bei Psychology Today. „Wenn wir älter werden und das Leben routinemäßiger wird, hat man das Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht”, steht in ihrem Text. Routinen machen unser Leben also vorhersehbar – und darum gefühlt kürzer. Das werde von vielen negativ bewertet. Doch wenn das Problem bekannt ist, liegt die Lösung auf der Hand: Raus aus den Routinen, empfiehlt Holmberg.
Kinder und Jugendliche nehmen Zeitspannen intensiver wahr, weil sie ständig in Veränderung leben – sie wachsen, wechseln die Schule, schließen Freundschaften, lernen Neues. Jeder Tag ist anders, besonders. Erwachsene hingegen erleben oft eine Welt ohne Übergänge. Doch Veränderung muss nicht enden, wenn man älter wird. Wir können sie selbst schaffen.
„Zeit ist relativ.“ Albert Einsteins Zitat ist an dieser Stelle mehr Metapher als wissenschaftliche Theorie, doch man könnte es auch auf das Zeitempfinden übertragen. Wenn nämlich Zeit relativ zum Raum ist und der Raum klein und eng ist, weil er sich nicht für Neues ausdehnen muss, bleibt er klein. Und so fühlt sich dann auch die Zeit an – klein und unbedeutsam. Wenn man ihn hingegen mit Erfahrungen und Begegnungen füllt, die ihn ausdehnen, dann tut das auch die Zeit – zumindest gefühlt.
Im Wald vergeht die Zeit gefühlt langsamer
Auch die Natur hat das Potenzial, das Zeitempfinden zu beeinflussen. Forscher:innen der Carleton University in Kanada verglichen in einer Studie das Zeitempfinden in der Stadt und in der Natur. „Die Teilnehmer:innen überschätzten die Dauer eines Spaziergangs, wenn dieser durch eine natürliche Umgebung führte, nahmen aber einen ebenso langen Spaziergang durch eine städtische Umgebung richtig wahr“, schrieben sie. Studienteilnehmer:innen, die durch einen Wald gingen, berichteten zudem von gesteigerter Entspannung.
Waldspaziergänge kosten nichts, viele andere Dinge, die unsere Zeit verlängern oder bereichern können, sind dagegen teuer: gesunde Lebensmittel, Fitnesskurse, Therapien oder Entspannungsurlaube. Geld, das man erst verdienen muss. Dabei läuft man dann in Gefahr, die Zeit wiederum komplett aus den Augen zu verlieren. Denn wäre unser Zeitkonto auf null, hätte alles Geld der Welt keinen Wert mehr. Es geht schlussendlich darum, eine Balance zu finden: Geld bewusst als Werkzeug für ein bewusstes Leben zu nutzen. Und sich dabei zu fragen: Was will ich wirklich? Brauche ich Markenschuhe, für die ich Stunden arbeiten müsste? Oder das neuste Smartphone? Oder das Netflix-Abo? Schätze ich diese Dinge oder gehe ich davon aus, mehr von der Außenwelt geschätzt zu werden, wenn ich diese besitze? Und ist das dann die Welt, in der ich leben möchte? Oder gibt es andere Menschen, Lebensweisen und Orte, die besser zu meiner Definition eines glücklichen Lebens passen?
Wertvoller geht nicht
Zeit ist das Wertvollste, was wir haben. Selbst an dem Ort, der so viel Zeit frisst, wird schon lange daran erinnert: Auf Social Media. Schon im Jahr 2012 war „YOLO“ das Jugendwort des Jahres. Das Akronym steht für „You only live once“ – man lebt nur ein Mal. Viele nehmen das Credo bis heute als Statement für ihr riskantes Verhalten, hedonistische Tage mit Partys und einem Kater am nächsten Morgen. Ebenso beliebt ist der lateinische Leitsatz „Carpe Diem“ unter Bildern, in Instagram-Stories und Posts. Wieso er weiterführt als YOLO? Weil er den/die Sprecher:in zum Handelnden macht, unterstreicht, dass jeder und jede den Tag nutzen – in die Hand nehmen – kann. Denn obwohl das Jetzt und Achtsamkeit für das Glück den heutigen Tag wichtig ist, sorgt ein wertschätzender Umgang mit dem Körper und Geist letztendlich dafür, dass wir immer wieder und noch lange das „Jetzt“ genießen können.
(Text: Klaudia Lagozinski)