Happy Birthday, Grundgesetz!
Ein Blick ins Grundgesetz lohnt sich immer! Es ist lesenswert – auch als Schatz gemeinsamer Einsichten aus der eigenen Geschichte. Hier spiegelt sich unsere Vergangenheit als Erfahrung, die uns Gegenwart und Zukunft gestalten hilft. Und kennen wir diesen unseren Verfassungstext denn wirklich und wissen, was darin steht? Als ich meinen Kindern diese Frage stellte, antworteten […]
Ein Blick ins Grundgesetz lohnt sich immer! Es ist lesenswert – auch als Schatz gemeinsamer Einsichten aus der eigenen Geschichte. Hier spiegelt sich unsere Vergangenheit als Erfahrung, die uns Gegenwart und Zukunft gestalten hilft.
Und kennen wir diesen unseren Verfassungstext denn wirklich und wissen, was darin steht?
Als ich meinen Kindern diese Frage stellte, antworteten sie: ‚Klar, die Menschenrechte stehen darin!‘ Genau das hat unserem Grundgesetz so viel Zustimmung eingebracht. Als Text des Vertrauens auf die Wahrung der eigenen Rechte und die der anderen wirkt es friedensstiftend in unsere Gesellschaft hinein.
Zumindest hier scheint man sich, bei allen sonst vorhandenen unterschiedlichen Ansätzen der Politik, verständigt zu haben: auf die Bürger- und Menschenrechte in einer Demokratie, auf die soziale Orientierung des Eigentums, auf den föderalen Staatsaufbau…
Ich bin in der DDR aufgewachsen. Freilich hatten auch wir eine Verfassung, die Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung und andere Grundrechte gegenüber diesem Staat zu bieten schien. Doch es gab kein Verfassungsgericht, wo man hätte all das einklagen können. Und in dieser Verfassung war die führende Rolle der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands festgelegt.
Wenn man in der DDR aufgewachsen ist und die dominante und die Menschen und Institutionen einengende Rolle dieser Partei aus eigener Erfahrung kennt, sieht man die Idee der Gewaltenteilung, die im Grundgesetz ihren Ausdruck findet, wohl ganz anders als ohne diese Erfahrung: Es ist gut so, dass die Staatsgewalt aufgeteilt ist zwischen Parlamenten, Gerichtsbarkeit und Verwaltungen, die Gewaltenteilung eben, vervollständigt durch den föderalen Aufbau des Staates, der den Bundesländern den Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess sichert. Diese schwierige und komplexe Konstruktion, die keines der Verfassungsorgane in Bund und Ländern ohne Kontrolle durch die anderen lässt, macht den politischen Prozess im Bundesstaat manchmal unübersichtlich und zäh, und das wird häufig kritisiert. Doch uns gibt diese Konstruktion die Chance, unsere Rechte auf allen Ebenen wahrzunehmen und auch einzuklagen. Und wenn unterschiedliche Parteien mit ihren Vorstellungen um unsere Stimmen und Meinungen werben können und müssen, werden wir schließlich zum Mitdenken aufgefordert.
Dieser Tage wurden Grundgesetze auf öffentlichen Plätzen verteilt: in Offenbach, Pforzheim und Bremen. Was bewegte die Menschen zu diesen Aktionen? Einigen ging es um eine Antwort auf die Verteilung des Korans durch die Salafisten. Das ist eine gute Antwort, die auf Diskurse setzt. Nutzen wir das in unserem Grundgesetz vorhandene Gerüst von Werten, Rechten und Pflichten, können wir damit argumentieren. Anderen ging es vor allem um das Verbot der Diskriminierung. Damit ist ein zentrales Thema des Grundgesetzes angesprochen: dass alle nach der eigenen Vorstellung glücklich sein und keine Nachteile davon haben sollen, wenn sie anders als andere sind. Hier sind wir beim Glück angelangt, und das ist ein Thema, das nun nicht unbedingt mit dem Grundgesetz assoziiert wird: das eigene und das Glück der anderen in dieser Welt, die uns so viele Versprechungen macht.
Soll ich glücklich sein, weil es das Grundgesetz gibt? Ja, sei es, würde ich meinen Kindern sagen! Denn auch deshalb kannst du all die Dinge tun, die dir deinen ganz eigenen Lebensentwurf ermöglichen. Du kannst reisen und Abenteuer suchen, du kannst einen Beruf ergreifen, von dem du dir Erfüllung und einen guten Platz in der Gemeinschaft versprichst, du kannst bei deiner eigenen Bildung und der deiner Kinder alle Möglichkeiten ergreifen, die diese grundgesetzliche Ordnung dir und ihnen bietet. Du kannst Einfluss nehmen, denn zum Mitdenken gehört auch das Mitreden. Also sag was! Das ist Glück!
Am 23. Mai 2012, dem 63. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes, erhält unser Debattenportal SagWas.net einen Preis als Ort im Land der Ideen. Dieses Datum ist eine schöne Übereinstimmung, nehmen wir mit dem Portal doch auch das Grundgesetz beim Wort. Meinungsfreiheit – Pressefreiheit – Partizipation! Das sind im Grundgesetz angelegte Rechte für alle, die wir mit dem Portal in eine digitale Variante überführen wollen. Freilich steckt darin auch eine Kritik an den im Grundgesetz immer noch fehlenden Bausteinen politischer Mitbestimmung, den plebiszitären Elementen.
Über viele aktuelle Themen der Politik könnte man anhand des Grundgesetzes debattieren: Etwa über das Betreuungsgeld. Oder die Vorratsdatenspeicherung. Das Grundgesetz beim Wort zu nehmen, bedeutet für uns auch: über seine Bedeutung zu streiten. Das werden wir am Tag der Preisverleihung tun.
Unsere Wahl des Themas ist auf Artikel 14 gefallen.
In Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es:
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Gilt das eigentlich auch für Banken und all die Akteure der Finanzmärkte? Was ist mit der Privatisierung der Gewinne, solange gut zu verdienen ist, und der Sozialisierung der Verluste, wie sie anhand der Finanzmarktkrise beobachtbar war, als der Staat zur Bankenrettung enorme Summen bereitstellen musste, die als Steuergelder eigentlich allen gehören? Oder soll der Staat sich am besten heraushalten? Gilt die Verpflichtung auch für alle Aktionäre, die sich nicht um die Sozialverträglichkeit ihrer Aktien scheren? Gilt sie für mich und meinen Nachbarn?
‚Soll Eigentum wieder mehr verpflichten?‘ So heißt unsere Streitfrage. Pro und Contra werden prominent vertreten sein, und jede und jeder kann sich einen eigenen Reim darauf machen. Und mitreden. Auch streiten. Denn die konzeptionelle Idee von SagWas.net beruhte auch auf einer Lücke, die wir empfanden: Fehlender Streit auf der ganzen Linie! Die mediale Welt straft den Streit mit den Vorwürfen der Zerstrittenheit und hat seine positiven Aspekte des öffentlichen, gemeinsamen Nachdenkens fast vergessen lassen. In der Politik wird Geschlossenheit demonstriert, bis es nicht mehr geht. Schon erscheint manchen der öffentliche Streit als geradezu gefährlich. Kein Wunder, dass das Streiten mit Ängsten besetzt und das Beobachten und Schweigen eher die Regel ist. Dafür steht dann das inszenierte Drama als personalisierbarer Skandal ganz oben auf der medialen Agenda. Wir sehen uns Schaukämpfe im Fernsehen an, lehnen uns zurück, während andere anscheinend für uns reden.
Das wollen wir ändern, auch an diesem Abend und mit dem SagWas-Debattenportal. Reden wir selbst, im Vertrauen auf die eigenen Erfahrungen! Doch schließen wir den Konsens mit ein, den das Grundgesetz uns bietet: die Verpflichtung auf den Respekt für die andere Meinung, das Glück all der anderen und damit die Ablehnung diskriminierender Äußerungen. Begegnen wir uns mit Anerkennung im Streiten. Lassen wir unsere Argumente leuchten, statt die anderen zu blenden, denn Streitkultur bedeutet letztlich nichts anderes, als uns selbst und die anderen sein zu lassen. Seien wir also meinungsstark und respektvoll gleichzeitig!
Und auch für diese Haltung lohnt sich ein Blick ins Grundgesetz.
Über die Autorin:
Dr. Irina Mohr ist Leiterin des Forum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Zu ihren Bereichen zählen Rechtspolitik und Innere Sicherheit, Staatsmodernisierung, Kulturpolitik sowie Fragen der Inneren Einheit Deutschlands. Außerdem ist die Politikwissenschaftlerin Hauptverantwortliche und Initiatorin des Debattenportals sagwas.net der FES.