Antisemitismus unter Migranten – ein besonders großes Problem?
Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA) gehört deutschlandweit zu den ersten zivilgesellschaftlichen Projekten, die Konzepte für die pädagogische Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft erarbeitet haben. Seit dem brutalen Überfall auf den Berliner Rabbiner Daniel Alter ist die Expertise der Initiative höchst gefragt. Doch in welcher Form wird über derlei Vorfälle berichtet? Wie lässt sich […]
Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA) gehört deutschlandweit zu den ersten zivilgesellschaftlichen Projekten, die Konzepte für die pädagogische Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft erarbeitet haben. Seit dem brutalen Überfall auf den Berliner Rabbiner Daniel Alter ist die Expertise der Initiative höchst gefragt. Doch in welcher Form wird über derlei Vorfälle berichtet? Wie lässt sich Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und muslimischer Prägung problematisieren, ohne Vorurteile über sie zu verstärken?
Sagwas sprach mit Anne Goldenbogen, Leiterin des KIGA-Projektes Anerkennen, Auseinandersetzen, Begegnen und mit Inan Witte, Neu-KIGAner mit deutsch-türkischem Hintergrund. Er wurde über das KIGA-Projekt „Islam und Gesellschaft“ auf die Initiative aufmerksam. Anne Goldenbogen hat einen jüdischen und Inan Witte einen muslimischen Background.
Sagwas: In eurem Namen ist das Wort „Kreuzberg“ enthalten. Wie wichtig ist das? Warum heißt ihr nicht Deutsche oder Multikulturelle Initiative gegen Antisemitismus?
Anne Goldenbogen: Ich würde sagen, dass es mittlerweile nicht mehr so wichtig ist. Aber als wir uns gründeten, hatte es natürlich einen Schlaglicht-Charakter. Die KIGA ist 2003 entstanden, im Zuge des Anstiegs antisemitischer Propaganda und Straftaten nach der zweiten Intifada. Die Gründer – Leute mit Migrationshintergrund, u.a. Aycan Demirel, der heute Leiter der KIGA ist – stellten damals fest, dass es in ihren eigenen Kreisen vermehrt zu antisemitischen Äußerungen kam. In Kreuzberg sind Schmierereien aufgetaucht, also Dinge, die es vorher sichtbar so auch noch nicht gab. Das hatte damit zu tun, dass es sich in einer bestimmten Bevölkerungsschicht abspielte. Kreuzberg steht für eine große migrantische Community, größtenteils muslimisch sozialisiert. Das war auch die Zeit, in der die Diskussion überhaupt erst mal stärker wurde: Wie ist das eigentlich, gibt es einen stärkeren oder anderen Antisemitismus unter muslimisch geprägten Menschen oder nicht? In dem Zusammenhang stand der Begriff „Kreuzberg“ im Namen dafür, dass man sich damit auf diesem Gebiet beschäftigt und auseinandersetzt.
Mir ist noch wichtig zu erwähnen, dass wir uns heute – ca. 10 Jahre später – auf einem anderen Stand der Diskussion befinden. Es ist klar, dass es keinen spezifisch muslimischen Antisemitismus gibt. Es gibt auch keinen strukturell komplett neuartigen. Wenn man sich anschaut, dass mittlerweile anti-muslimische Ressentiments immer stärker werden und man von einem anti-muslimischen Rassismus sprechen kann, den es in Deutschland gibt, und der von breiten Bevölkerungsschichten getragen wird, dann ist es mittlerweile fast ein bisschen kritisch, „Kreuzberg“ noch im Namen zu haben. Es kann auch falsch verstanden werden.
Sagwas: Wie erklärt Ihr den Leuten, warum ausgerechnet Anti-Antisemitismusarbeit in migrantischen Zusammenhängen nötig ist.
Anne Goldenbogen: Da findet auch in der KIGA selbst ein Diskussionsprozess statt, in dem wir nicht in allen Punkten einer Meinung sind. Was man zusammenfassend sagen kann ist, dass wir damit angefangen haben, in Kreuzberg und Neukölln zu arbeiten und dass wir mit den Menschen arbeiten, mit denen wir leben. Das ist einfach eine Gesellschaft, die ganz stark von Migration geprägt ist. Wenn man mit den Leuten arbeitet und spricht, merkt man, dass es teilweise andere Bezüge gibt: andere historische und kulturelle Bezüge. Es geht viel um Identitätsfragen. Unser Ansatz ist aber, nicht zu sagen, dass es spezielle Bildungsangebote braucht, nur weil sie Muslime sind. Das ist totaler Unsinn. Migrationsgesellschaft bedeutet, dass unterschiedliche Menschen in einem Raum sind, die ganz unterschiedliche Bezüge haben und auch unterschiedliche Identitätssuchen. Man braucht pädagogische Konzepte, um diese Vielfalt aufzunehmen und zu spiegeln und diese ernst zu nehmen und damit zu arbeiten. Das bedeutet umgekehrt auch, ernst zu nehmen, dass z.B. auch Diskriminierungserfahrungen vorhanden sind, weil sie nicht Angehörige der „Mehrheitsgesellschaft“ sind. Man braucht Konzepte, die auf der Grundlage von Vielfalt erarbeitet werden und nicht den Mainstream an Pädagogik, der auf einem weißen, deutschen Mehrheits-Lehrplan beruht, in dem gesagt wird, was gelernt werden müsse und dieses oder jenes sei die Moral von der Geschichte und gar nicht danach gefragt wird, ob Brücken gebaut und Zugänge hergestellt werden, die für die Leute interessanter sind.
Sagwas: Inan, ist die Behauptung richtig, dass Du eine Weile antisemitische Ressentiments vertreten hast?
Inan Witte: Auf jeden Fall würde ich das so bezeichnen. Vor 10 Jahren war ich 12 Jahre alt. Da habe ich mit Politik nicht viel am Hut gehabt. Bei mir ging das eher so 2005/06 los, als der Libanon von Israel angegriffen wurde und ich viele türkische Freunde hatte, teilweise auch libanesische und da sind dann auch solche Sprüche wie „Scheiß Israel!“, „Die scheiß Juden!“, „Unser Land!“ gefallen – was ja sehr lustig ist, denn eigentlich verstehen sich ja Türken und Araber nicht so gut. Wenn man in die Türkei geht und über Araber spricht, dann ist das eigentlich eher ein Thema, von dem man sagt, lass das mal lieber. Aber hier in Berlin sind viele Araber und Türken gute Freunde und viele Türken in Berlin haben sich – das kommt mir so vor – von dieser Abneigung der Araber gegenüber den Juden ganz stark davon beeinflussen lassen. In meinem Freundeskreis war das auch so. Davon war ich auch betroffen, und ich habe mich antisemitisch geäußert. Auch bei Diskussionen in der Schule über den Nahost-Konflikt war ich der einzige, der Pro-Palästina war. Der Rest war total für Israel. Da habe ich dann so Sachen gesagt wie: Die Selbstmordattentäter finde ich in Ordnung.
Sagwas: Was meinst Du, woran es lag, dass Du dich damit identifiziert hast? Warum ging es Dir nicht um Berliner oder deutsche Probleme? Wieso spielte der Nahost-Konflikt für Dich eine Rolle? Lag es nur an den Freunden oder gab es noch andere Gründe?
Inan Witte: Ich würde schon sagen, dass der Hauptbeweggrund die Freunde waren. Was natürlich ganz stark dafür spricht ist, dass sich allgemein die Migrantenkinder, die hier in Deutschland aufgewachsen und groß geworden sind, gar nicht selber mit Deutschland identifizieren können. Wenn man fragt „Was bist du?“ bekommt man die Antwort „Ich bin Türke.“, „Ich bin Araber.“, „Mein Heimatland ist die Türkei.“ oder „der Libanon“. Und das, obwohl sie dieses Land bestenfalls nur aus sechs Wochen Sommerferien kennen. Bei mir war das ähnlich. Obwohl ich halb deutsch bin – meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Türke – sehe ich mich nicht als Deutscher. Das habe ich zu Hause vor meinen Eltern auch angesprochen, weil ich mich teilweise von der deutschen Gesellschaft nicht akzeptiert fühle und ich nur auf mein äußeres Erscheinungsbild reduziert werde. Schwarze Haare, dunkler Teint, der kann kein Deutscher sein. Wenn ich gesagt habe, dass ich Deutscher bin, habe ich Sprüche zu hören bekommen: „Du bist Papier-Deutscher“ oder „Auf dem Papier bist du deutsch, aber in Wirklichkeit bist du Ausländer.“ Dadurch fühlt man sich der „ausländischen Community“ näher, mit denen sympathisierst man eher. Dann fehlt noch das Hintergrundwissen zum Nahen Osten. So kann der Antisemitismus, auf Unwissen basierend, entstehen.
Sagwas: Anne, ist der „Fall“ von Inan eine Ausnahme oder begegnen Euch viele Jugendliche und junge Erwachsene auf ähnliche Weise – auch während Eurer Arbeit in Schulen, bei Seminaren und in der Fortbildung von Lehrern und Pädagogen? Finden eine Sensibilisierung und ein mögliches Umdenken auch durch Eure Arbeit statt?
Anne Goldenbogen: Das würde ich schon sagen. Das hat aber etwas damit zu tun, wie langfristig wir mit Menschen zusammenarbeiten können. Wir haben Projektschultage im Angebot, aber das ist nur ein einzelner Schultag. Da braucht man sich nichts vormachen. Da kann man anfangen, ins Gespräch zu kommen und die Reaktionen bei den Jugendlichen sehen in 99 Prozent der Fälle so aus, dass sie froh sind, mal darüber sprechen zu dürfen, weil das in der Schule ganz oft kein Thema sei. Das sind die Rückmeldungen, die wir bekommen. Die meisten Schüler sagen, dass die Lehrer Angst hätten, das Thema anzusprechen. Sie hätten Angst, dass in der Klasse alles hoch kocht und sie es dann nicht mehr zusammen kriegen würden. Das heißt, z.B. das Thema „Nahost-Konflikt“ kommt in der Schule gar nicht vor. Es ist auch kein Bestandteil des Rahmen-Lehrplans, soweit ich weiß. Wenn es dazu gehört, dann wird es einfach nicht umgesetzt. Die Jugendlichen freuen sich, über das Thema sprechen zu können, weil es auch sehr emotional aufgeladen ist. Es liegt ihnen auf der Seele. Aber man braucht sich bei einem einzigen Tag, der einem zur Verfügung steht, nicht vormachen, dass es Veränderungen gibt. Wir haben aber auch Modelle – Inan war in so einem Projekt – die über ein Jahr gehen. Da hat man natürlich ganz andere Möglichkeiten, gemeinsam zu arbeiten. Du kannst dich streiten, triffst dich wieder und kannst wieder drüber reden, also auf eine Art, wie ganz normale Bildungsprozesse ablaufen.
Sagwas: Was war das für ein Projekt, Inan?
Inan Witte: Das Projekt hieß „Islam und Gesellschaft“, durch das uns pädagogisches Arbeiten beigebracht wurde. Wie arbeitet man als Pädagoge? Wir waren eine Gruppe von sieben Leuten, alle mit muslimischem Hintergrund. Eine Pakistanerin, eine Libanesin, eine Ägypterin und der Rest hatte einen türkischen Migrationshintergrund. Aber alle hatten unterschiedliche Einstellungen zum Islam. Alle waren sunnitischen Glaubens. Leider hatten wir keine Schiiten oder Aleviten dabei. Die Einstellungen dazu waren sehr verschieden: ob sie Praktizierende sind, ob sie Kultur-Muslime sind oder ob sie gar nicht daran glauben, sondern nur etwas damit zu tun haben, weil es für die Eltern eine Rolle spielt und ob sie sich selber noch auf dieser Schiene sehen oder eigentlich gar nichts mehr damit zu tun haben. Wenn man das Jahr des Projekts Revue passieren lässt, kann man sehen, wie es am Anfang zwei Lager gab. Auf der einen Seite die Praktizierenden, die alles, was sie gesagt haben, als richtig ansahen. Wir haben dann gesagt, dass wir das anders sehen. Aber im Laufe des Jahres hat man gesehen, wie die Barriere flacher wurde. Irgendwann haben wir dann alle Verständnis für den Blick der jeweils anderen Seite hergestellt. Wir haben dann teilweise zugestimmt. Und das war sehr interessant und hat Spaß gemacht.
Sagwas: Was meinst Du, warum Du angefangen hast umzudenken? War diese Kraft, diese Macht, die zu dem Thema in der Clique herrschte, plötzlich schwächer geworden durch dieses KIGA-Projekt? Oder hast du auch selber anfangen können, das innerhalb Deiner Clique zum Thema zu machen? Musstest du Dich für irgendwas rechtfertigen vor Deinen Leuten?
Inan Witte: Nein, das muss man jetzt in einem ganz anderen Kontext sehen. Die Aussagen, die ich damals von mir gegeben habe oder dieser Freundeskreis, das war mit 16 oder 17. Ich bin mittlerweile 22 und in der Zeit damals ist meinem Vater aufgefallen, dass ich irgendwie angefangen habe, bei mir zu Hause, wenn Gummibärchen rumlagen, dass ich dann gesagt habe: Esst keine Gummibärchen, da ist Gelatine drin, das ist Schweinefleisch! Ich habe mich auch ein bisschen religiös radikalisiert. Mein Vater hat dann mitbekommen, wie ich türkisch-nationalistische Parolen zu Hause von mir gab. Er fragte dann irgendwann mal, wie ich dazu kommen würde. Ich habe ihm das dann erzählt, und irgendwann hat er mich gefragt, ob ich etwas lesen will. Er gab mir ein Buch über die Türkei. Darin stand dann der Name von Atatürk. Ich habe dann angefangen zu lesen und kam auf die laizistische Schiene. Ich habe dann immer mehr darüber gelesen und mich gefragt, was mich der Nahost-Konflikt angehen würde. Was kann ich denn dafür, wenn Araber und Israelis ein Problem haben? Nur weil die ein Problem haben, soll ich „Scheiß Jude!“ sagen und gegen Juden sein? Das ist doch voll der Schwachsinn. So ist das dazu gekommen und durch die KIGA hat sich mein Bild auf den ganzen Konflikt, auf die Arten von Antisemitismus – wer, wie, wo, was – noch mal ganz stark differenziert und verändert. Es ist alles klarer geworden, was vorher sehr schwammig war. Die Arbeit und auch das bloße Mithören von Gesprächen der KIGA-Leiter und der KIGA-Projektleiter oder bei einer Hospitanz, das hilft ungemein.
Sagwas: War der tätliche Angriff auf den Berliner Rabbiner Daniel Alter vor ein paar Wochen, die Qualität und die Tatsache, dass zudem seine kleine Tochter bedroht wurde, überraschend? Oder war es für Euch als Experten etwas, wovon man sagen kann, unabhängig davon, ob Medien berichten oder nicht, so etwas passiert schon durchaus öfter?
Anne Goldenbogen: Ich fand es überraschend, dass es so brutal war. Das hat mich geschockt und damit hätte ich auch nicht gerechnet, muss ich sagen. Es gibt noch mal einen qualitativen Unterschied. Ich weiß, dass es eine hohe Anzahl an antisemitischen Vorurteilen und Einstellungsmustern gibt. Das weiß man alles. Man weiß, dass es Beschimpfungen und Beleidigungen gibt – „Du Jude!“ – aber jemanden körperlich anzugreifen, ist eine ganz andere Nummer. Das hat mich überrascht. Es ist auch gut, dass es einen überrascht, auch wenn man sich in dem Themengebiet ganz gut auskennt, muss man sagen – ich will es nicht bagatellisieren – dass es ein krasser Ausschlag und keine Normalität ist.
Inan Witte: Dem würde ich auch zustimmen. Es hat mich extrem überrascht. Es ist in meinen Augen auch ein Extremfall. Ich würde nicht sagen, dass es jede zweite Woche passieren würde. Mit Beschimpfungen und dem Beschmieren von Synagogen rechne ich öfter. Da wundert mich, dass das nicht so oft in den Medien ist. Aber der grundlose Angriff war schon ein Schock für mich, nur weil er eine Kippa trägt oder Jude ist – das ist extrem, für uns alle.
Sagwas: Unmittelbar nach dem Fall gab es Euch gegenüber von medialer Seite eine ziemlich große Nachfrage. Es gab auch diverse Berichte ausschließlich über die KIGA. Wenn Du, Anne, das so Revue passieren lässt, all die Dinge, die Du durch die Berichterstattung mitbekommen hast, würdest Du sagen, dass adäquat berichtet wurde oder war das eher tendenziös und die KIGA wiederum wurde auch nur als ein Ausnahmebeispiel dargestellt?
Anne Goldenbogen: Das ist eine ziemlich schwierige Frage. Darüber habe ich mir in den letzten Wochen den Kopf zerbrochen. Ich fand es selten in einer Phase so schwierig, Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Das liegt daran, dass ich auf der einen Seite in keinster Weise Antisemitismus bagatellisieren oder runterspielen will, wie in den Debatten Anfang der 90er über Rechtsextremismus, bei denen Sozialarbeiter angefangen haben, über ihre Jugendlichen zu sagen, dass sie alle gar nicht so schlimm seien, das will ich auf keinen Fall. Aber ich war gleichzeitig mit einer Situation konfrontiert, in der es in meinen Augen teilweise gar nicht richtig darum ging, sondern in der auch ein anderer Diskurs in der Berichterstattung bedient werden sollte. Nämlich einer, der auf anti-muslimischen Ressentiments beruht. Da haben sich verschiedene Diskurse an einem Punkt getroffen und sind durcheinander geraten. Wir mussten uns sehr stark bemühen, das rüber zu bringen, was unser Ansatz ist. Da hatte ich schon den Eindruck, dass uns einige vor ihren Karren spannen wollten. Nämlich nach dem Motto: Schau mal die KIGA, die machen da Arbeit mit Muslimen, was ja bedeutet, dass die Muslime ein besonderes Problem mit Juden haben.
Sagwas: Wie kriegt man den Spagat hin?
Anne Goldenbogen: Wir haben uns bemüht, in allen Interviews immer wieder das zu sagen, was wichtig ist und was eigentlich wissenschaftlich lange erwiesen ist. Es gibt keine signifikanten Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Herkünften von Jugendlichen und ihrem Antisemitismus. Der Hintergrund spielt also kaum eine Rolle. Der Antisemitismus ist ähnlich weit verbreitet. Bei Jugendlichen mit Migrationshintergund gibt es häufiger einen Bezug auf den Nahost-Konflikt und bei herkunftsdeutschen Jugendlichen häufiger einen Bezug auf die deutsche Geschichte – Schuldabwehr oder Erinnerungsabwehr. Wir haben uns immer wieder bemüht, das zu sagen und explizit anti-muslimische Ressentiments anzusprechen. Es ist in einer Art und Weise auch auf einer anderen Ebene tendenziös, weil in derselben Zeit auch relativ viele Anschläge auf Moscheen stattgefunden haben. Die Beschneidungs-Debatte fand parallel statt. Es sind aber auch Muslime rassistisch und körperlich angegriffen worden. Es hat kein ähnliches Medienecho hervorgerufen. Ein Rabbiner trifft in Deutschland wegen der Historie natürlich auf eine besondere Sensibilität. Aber man merkt schon, dass der antimuslimische Rassismus nicht äquivalent behandelt wird. Es ist sehr schwierig, das zu thematisieren. Weil es nicht darum geht, beides zu vergleichen. Man ist schnell in den Konkurrenzen drin. Es geht mir darum, ein gesellschaftliches Klima zu beschreiben.
Inan Witte: Das ist ein bisschen das Problem, das jetzt in der Gesellschaft besteht. Was mir bei dem Thema auffällt ist, dass viele meiner jetzigen Freunde, die alle studiert haben, sagen: Guck mal, einem Rabbiner passiert so etwas und wie groß das aufgemacht wird. Immer wieder kommt dieser Satz: Wenn das einem Hodscha passiert wäre, würde das nicht so groß gemacht werden. Ich will den Medien nicht unterstellen, dass sie es mit Absicht machen oder dass es so wäre, wenn es einem Hodscha passieren würde. Aber das kommt dann bei den meisten Leuten so rüber. Die „Sonderstellung“ der Juden. Das führt bei vielen zu einer Abneigung. Ich probiere dann zu differenzieren und sage: Kommt mal runter, das würden die bei einem Hodscha genauso machen. Das sage ich von mir aus. Ob das so wäre, weiß ich nicht. Das ist ein starkes Problem, das die Medien auf ihre Kappe nehmen müssen, weil es noch mehr Ressentiments schürt.
Sagwas: Anne, wie ist das denn bei Euch? Gibt es da auch Vorwürfe aus der „Minderheitsgesellschaft“ oder aber auch Drohungen aus der „Mehrheitsgesellschaft“ jeglicher Art?
Anne Goldenbogen: Von der Seite, die du als erstes genannt hast, gab es das auf jeden Fall. Es gab von Seiten der Migranten-Organisationen am Anfang – nicht aller, aber einiger – Abwehr. Und die gibt es bis heute. Uns wird weniger Verrat vorgeworfen, sondern vielmehr Stigmatisierung. „Was erzählt ihr hier? Wir sind keine besondere Problemgruppe.“ Und dann kommt der Vorwurf an die KIGA, dass wir Rassisten seien. Das war ganz am Anfang so, weil wir mit einer spezifischen Zielgruppe arbeiten. Und die Haltung derjenigen, die uns Vorwürfe machten, war, dass Migranten keine Belehrung bräuchten. Nach dem Motto: Es gibt kein gesondertes Problem, wir haben kein Problem mit Antisemitismus und wir wollen auch nicht, dass uns einer reinquatscht. Und von der deutschen Seite gab es auch Vorwürfe. Diese kamen interessanterweise – und da möchte ich jetzt auch nicht falsch verstanden werden – aus so einer Multikulti-Ecke. Aus der uns auch wiederum Rassismus vorgeworfen wurde, indem sie gesagt haben, dass man verschiedene Kulturen akzeptieren muss. So ein kulturalisierender Ansatz. Von wegen, die sind dann so in ihren Kulturen und dann muss man das auch einfach so stehen lassen und da kann man nicht hingehen und sagen, dass ihr das so lernen müsst, wie wir das können. Ein kulturalisierendes, essenzialisierendes Verständnis. Das war das Problem, mit dem man sich herumschlagen musste.
Sagwas: Wie ist der Stand bei der KIGA? Man konnte auf Eurer Webpage lesen, dass zum November hin zwei Stellen gestrichen würden. Wie sieht Eure Zukunftsperspektive aus? Macht ihr euch Hoffnungen, dass es irgendwann wieder aufgestockt werden kann?
Anne Goldenbogen: Das ist ein großes Problem. Wir haben zwei Bundesmodellprojekte. Wir haben es bisher nicht geschafft, in irgendeiner Art und Weise über das Land Berlin in eine kontinuierliche Förderung zu kommen. Das bedeutet, dass unsere Finanzierung seit einigen Jahren auf den Bundesmodellprojekten baut. Also das Bundesprogramm, bei dem man sich bewirbt und für drei Jahre ein Projekt konzipiert und einreicht. Dann wird entschieden und dann gibt die Bundesregierung 50 Prozent der Gelder und die anderen 50 Prozent muss man selber zusammensammeln. Das ist ein riesiges Problem. Jetzt ist es uns gelungen, sehr viel Geld zu akquirieren, aber trotzdem nicht die kompletten 50 Prozent Kofinanzierung. Und das bedeutet bei diesen Finanzierungsmodellen, dass man sein Projekt beenden muss. Für uns bedeutet es ganz konkret, dass Leute entlassen werden im Modell-Projekt der Antisemitismus-Prävention. Im Moment stellen wir Anträge und hoffen auch ein bisschen, dass der öffentliche Diskurs dazu führt, Gelder frei zu machen. Die Chancen stehen gut, dass wir es bis nächstes Jahr hinkriegen. Aber grundsätzlich ist die Frage, wie soll so eine Arbeit finanziert werden? Eine qualitativ gute Arbeit muss Stabilität haben und dazu braucht es eine durchgängige Förderung, damit auch die Zeit da ist, sich mit dem Inhalt zu beschäftigen und nicht bloß Geld an Land zu ziehen.
Sagwas: Wie haben sich bisher die anderen 50 Prozent zusammengesetzt, die nicht vom Bund kamen?
Anne Goldenbogen: Einen Großteil hat die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ getragen, die uns seit mehreren Jahren kontinuierlich fördert. Ohne diese Förderung würde es uns auch jetzt schon nicht mehr geben.
Sagwas: Inan, Du bist jetzt richtig aktiv bei der KIGA?
Inan Witte: Ich habe ein Jahr als Teilnehmer mitgemacht. Das Abschlussseminar fand im März 2012 statt. Daraufhin habe ich – weil es mir so viel Spaß gemacht hat – gefragt, ob ich noch mehr machen kann und so konnte ich schon ein paar mal hospitieren und bin auf eine Klassenfahrt mitgefahren, um zu sehen wie man mit einer Klasse arbeitet und wie man eine Reise organisiert. Die Basics, die man braucht, um mit Jugendlichen arbeiten zu können. Vor kurzem habe ich eine Fortbildung zum Nahost-Konflikt besucht und hoffe, dass ich es schaffe, mich hier weiter – neben dem Studium – zu engagieren, weil es eine wichtige Arbeit ist und weil es Spaß macht. Es ist sehr wichtig, auch für mich selbst.
Sagwas: Wir drücken Euch die Daumen, dass es noch lange weitergeht. Vielen Dank für das Gespräch!