Verrückt nach Glück
Der rheinische Karneval gilt als eines der größten Volksfeste weltweit. Lena Baumgartl (28) ist seit vier Jahren Mitglied der Kölner Stattgarde Colonia Ahoj e.V. Sie erklärt, was hinter den Kulissen des Karnevals geschieht und warum Karneval nicht nur eine Wahnsinnsparty ist, sondern ein großartiges Gefühl.
Reist ein Tourist im Januar nach Köln, ist es nicht unwahrscheinlich, dass er einen Clown in der Straßenbahn entdeckt. Er wird unweigerlich denken, die Rheinländer seien verrückt. Weiberfastnacht auf dem Alter Markt dürfte ihm die Stadt vorkommen wie ein Irrenhaus. Lena Baumgartl sieht das anders. Sie spielt die Piccoloflöte in einer traditionellen Karnevalskapelle und behauptet: „Karneval ist pures Glück.“
Auch Lena kam ursprünglich als Touristin aus Wiesbaden nach Köln und hat in ihrer Jugend mit ihrer Familie an mehreren Karnevalssitzungen teilgenommen. Da die Großmutter und die Mutter aus dem Rheinland stammen, ist eine genetische Disposition zum Schunkeln nicht auszuschließen.
Als sie im Alter von zwanzig Jahren aus beruflichen Gründen in die Rheinmetropole zog, suchte sie eigentlich nur nach einer Möglichkeit, mit ihrer Querflöte in einem klassischen Musikverein zu musizieren. Über einen Freund gelangte sie zur Stattgarde Colonia Ahoj, einem traditionsreichen Kölner Karnevalsverein. „Aus der Querflöte wurde die Piccoloflöte, weil diese die höchsten Töne spielt und besser herauszuhören ist“, erläutert Lena den Grund für den Instrumentenwechsel. Und seitdem ist nichts mehr, wie es mal war.
Ein Bus mit Fleischwurst, Frikadellen und Kölsch
Was es zeitlich bedeutet, während der Karnevalszeit, der sogenannten Session, mit fast dreißig Musikern, Chormitgliedern und Tänzern aufzutreten, kann man sich kaum vorstellen. Es war so gut wie unmöglich, einen Termin mit Lena zu bekommen, um mit ihr über ihre Auftritte zu sprechen.
Gemeinsam mit der Bordkapelle absolviert Lena pro Session zwischen neunzig und 120 Auftritte im gesamten Rheinland, in Westfalen und sogar im niederländischen Nachbarland. Über ein solches Booking würde sich jede Rockband freuen.
Eine Session beginnt am 11.11. und endet am Karnevalsdienstag, meist im Februar des Folgejahres. Das ist knallharte Arbeit. So tourt das Musikensemble jeden Abend für die Dauer von drei Monaten im Bus mit Fleischwurst, Frikadellen und Kölsch zu ausverkauften Hallen mit ausgelassen feiernden Gästen.
„Im Bus ist immer Party. Ruhig ist es da nie, es sei denn, wir kommen ganz spät zurück“, beschreibt Lena die Stimmung während dieser „Tor-Tour“. „Ruhe habe ich erst wieder, wenn ich im Bett liege. Aber selbst da komme ich nicht zur Ruhe, weil ich immer noch die Lieder singe. Und morgens stehe ich damit auf.“
Ohne Disziplin geht nichts
Lenas Hauptberuf und ihr Hobby sind während des Karnevals streng durchorganisiert. Das erfordert außerordentlich viel Disziplin. Der Tag beginnt morgens um sechs Uhr und endet frühestens um Mitternacht. Nach einem Tag im Büro heißt es rein in den Tourbus, hin zum Auftritt, auf die Bühne, musizieren, „trinken und winken“, um direkt im Anschluss mit dem Verein zum nächsten Gig zu fahren. Unter der Woche sind das im Schnitt zwei bis drei Auftritte pro Abend, am Wochenende schon mal vier bis fünf. Freizeit gibt es in dieser Phase nicht. „Die wird gestrichen.“
Offenbar feiern die Menschen im Rheinland ihren Karneval in einem Umfang, dass Außenstehenden oftmals nur Fassungslosigkeit statt Fastelovend ins Gesicht geschrieben steht. Für dieses Fest würden viele Kölner alles tun. Beispielsweise wirkt es befremdlich, dass sich die Musiker die teure Uniform für den Karnevalsverein selbst kaufen müssen. Verlässt ein Mitglied die Kapelle, gilt Rückgabepflicht.
Wer ein Instrument spielt, wird bei der Stattgarde Colonia Ahoj sofort aufgenommen. Wer unmusikalisch ist, hat leider Pech und muss unter Umständen für zwei Jahre auf die Warteliste. „In dem Fall muss der Bewerber auch erst ein Karnevalsseminar besuchen und einen Aufnahmetest absolvieren“, erklärt Lena den langen und schwierigen Prozess. „Dem Antrag auf Mitgliedschaft wird auch nur stattgegeben, wenn mindestens zwanzig Prozent der anderen Mitglieder sowie der Vorstand zugestimmt haben. Erst danach ist man berechtigt, die Uniform zu tragen.“
„Eine schöne Grippe“
Derlei Regularien stellen für einen echten Jecken kein Hindernis dar. „Karneval ist wie eine schöne Grippe, die man nicht los wird und auch nicht loswerden möchte“, so Lena. „Einmal infiziert, willst du nicht, dass dieser Zustand jemals wieder aufhört. Sobald ich nur einen Ton von einem Karnevalslied höre, geht mein Herz auf und ich bin total glücklich. Wenn du dann noch in einen Saal reinkommst und die Leute grölen, dann ist das einfach nur genial.“ Lena sieht in Verbindung mit Karneval vor allem Spaß und Glück in den Gesichtern der Gäste. „Man merkt, dass die Menschen in diesen Momenten alles andere vergessen.“
Aber woran liegt das? Wenn der „normale Mensch“ aus dem Hunsrück auf allen Kanälen der öffentlich-rechtlichen Sender eine 90-minütige Kölle-Alaaf-Show zur Prime Time entdeckt, schaltet er meistens intuitiv um und sucht einen Krimi oder eine beruhigende Dokumentation. Scheinbar lässt sich diese Grippe nicht medial ins heimische Wohnzimmer übertragen.
„Man sollte schon live dabei sein“, erklärt die Musikerin, die wortwörtlich mittendrin ist statt nur dabei, diesen Effekt. „Beim Einmarsch der Bordkapelle in einen Saal mit schunkelnden, lachenden Gästen in bunten Kostümen spürst du nichts als Freude. Die Leute rasten aus, wie neulich in der Kölnarena mit 20.000 applaudierenden und singenden Menschen. Da bekommen alle automatisch eine Gänsehaut.“
Feiern bis zur Depression
In diesem Karnevalsrausch durchleben die Teilnehmer anscheinend alle menschlichen Regungen bis hin zur Niedergeschlagenheit, wenn das Spektakel vorüber ist. Lena fragt sich am Ende einer Session oft ratlos, was sie denn jetzt machen soll. „Am Aschermittwoch kommt die große Traurigkeit“, beschreibt sie das Gefühl. „Da gehst du durch die Stadt und siehst noch Konfettischnipsel auf dem Boden. Dann denkst du: Schade, kein Auftritt mehr, keine Termine.“ Es wirkt, als sei der Stress der vergangenen Monate zum Motor geworden. Ist der Motor aus, bleibt man stehen. Plötzlich herrscht Stille – und diese Stille verdrängt auch langsam die Ohrwürmer aus dem Kopf.
Doch als wollte sich Lena selbst Hoffnung machen für die Zeit nach dem Straßenkarneval, sagt sie grinsend: „Nach dem Karneval ist vor dem Karneval.“ Zu Ostern fängt die Bordkapelle der Stattgarde Colonia Ahoj e.V. wieder mit den Proben an. Ja, der Rheinländer an sich ist schon verrückt. Aber glücklich.