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Alles für den Nervenkitzel

Von Lilith Diringer / 11. Dezember 2024
picture alliance / Bernhard Kogler/Shotshop | Bernhard Kogler

Klettern ohne Seil, Fallschirmspringen oder Motorrad-Stunts: Viele Menschen setzen sich freiwillig großem Risiko aus. Woher kommt die Lust an der Gefahr?

Meine Knie zittern, mir rutscht sprichwörtlich das Herz in die Hose und eigentlich möchte ich ganz schnell wieder runter. Ich stehe in über dreieinhalb Metern Höhe auf einem wackeligen Konstrukt aus Menschen. Es ist unser erster Versuch dieser Menschenpyramide. Einen kleinen Schritt nach vorne, zur Seite, nach hinten. Es klappt nicht sofort, aber schon beim dritten Mal hört mein Körper auf, Alarm zu schlagen. Jetzt genieße ich die Aussicht und kaum haben meine Füße den Boden wieder berührt, frage ich die anderen, wann wir es nochmal machen können.

Ich mache seit vielen Jahren Zirkussport und Cheerleading. Der Nervenkitzel ist ständiger Begleiter des Trainings und dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – liebe ich diesen Sport. Extremsport aller Art ist beliebt, also geht es wohl vielen Menschen so wie mir. Doch was genau reizt uns eigentlich daran, uns diesen Herausforderungen immer wieder zu stellen?

Die Palette an Extremsportarten ist breit, ob es darum geht, auf dem Motorrad Salti zu schlagen oder sich aus höchster Höhe mit dem Fallschirm in die Tiefe zu stürzen. All diesen Aktivitäten ist eines gemein: Sie gehen an die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit.

Laut Sportwissenschaftler Siegbert A. Warwitz liegt ein Grund der Popularität in einer „angeborenen Motivation zur Grenzerweiterung“. Sprich: Extremsportler:innen behielten die kindliche Abenteuerlust bei und sträubten sich gegen den gesellschaftlich Trend zunehmender Absicherung. So sieht das auch Luc Ackermann, der seit seinem 16. Lebensjahr für die Marke Red Bull auf dem Motorrad sitzt und mit ihm die wildesten Stunts vollführt. Von seinem Sport verspricht sich der heute 26-Jährige ein aufregenderes Leben als das seiner Eltern, die eine Gärtnerei in Thüringen führen.

Ängste überwinden und sich beweisen

Ob Athlet:innen wie Ackermann dabei bewusst den Tod suchen? Eher nicht, vielmehr stecke hinter dem Betreiben des Extremsports das Ziel, die Angst zu besiegen und sich persönlich weiterzuentwickeln. Sportsoziologe Gunter Gebauer betont: „Die meisten Menschen, die Extremsport treiben, kalkulieren genau, was sie tun.“ Es geht also viel mehr darum, bestehende Ängste zu überwinden und sich selbst zu beweisen, dass die eigenen Grenzen verschiebbar sind. So wie der Triathlet Jonas Deichmann, der beispielsweise 450 Kilometer komplett ohne Begleitboot durch die Adria schwamm. „Geil war’s“, kommentiert der 37-Jährige danach. Er freue sich stets auf den Moment nach dem Wettkampf, denn dann habe er sich selbst sein eigenes Können gezeigt.

„Grenzen austesten“ – das ist auch für den 43-jährigen Extremstreckenläufer Norman Bücher entscheidend. Während für die meisten anderen Menschen ein normaler Marathon eine immense Herausforderung wäre, läuft Bücher Strecken von bis zu 600 Kilometern. Dabei misst er sich an seiner eigenen Leistung und ist stolz, wenn er es schafft, mentale Stärke zu beweisen.

Alle der oben genannten Athleten machen immer weiter, obwohl sie ihre Körper großen Strapazen aussetzen. Kann es sein, dass Sport auch süchtig macht?

Adrenalin und Nervenkitzel – ein medizinischer Erklärungsversuch

Die 1978 veröffentlichte „Opponent-Process-Theory liefert eine Antwort: Angst löst eine Adrenalinsekretion aus, wodurch kurze Zeit später zum Ausgleich Dopamin und weitere Botenstoffe ausgeschüttet werden, die zu einer Euphorisierung führen. Es wird vermutet, dass bei einigen Personen leichte Reize zu schwach sind, um diese Prozesse hervorzurufen. Auch verlangt der Körper nach dem Training, hat er sich einmal daran gewöhnt. Es juckt in den Gelenken und der Wunsch, zu trainieren, steigt. „The desire to do gymnastics “ (deutsch: „das Verlangen, zu turnen“) steht beispielsweise bei Simone Biles, mehrfache Rekordbrecherin im Kunstturnen, ganz oben auf der Liste der Motivationsfaktoren.

Doch auch die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten kann ausschlaggebend sein. „In meinem Sport finde ich Personen mit demselben Spirit“, so beschreibt Extremstreckenläufer Bücher einen weiteren Motivationsfaktor. Gemeinsam schwierige Situationen durchstehen – das schweiße zusammen. Bei den meisten Extremsportarten braucht es ein Team. Personen, die dich in der Pyramide stützen und auffangen, Menschen, die deinen Rennwagen reparieren und absichern, dass die Technik klappt, Mitstrampler bei der Tour de France, um deine Motivation hochzuhalten. Gleichgesinnte finden und gemeinsame Leidenschaften teilen – auch das motiviert zum Weitermachen im Extremsport.

Der Wunsch, etwas Besonderes zu sein

Eine Studie aus dem Jahr 2009 stellt zusätzlich den Anreiz heraus, zu einer elitären Gruppe dazugehören zu wollen. Auserwählt, übermenschlich sein – das ist die Motivation vieler. Mit Erlangen dieses Erfolgs versprechen sie sich gesellschaftliche Anerkennung und mitunter eine lukrative Karriere, egal ob als Stunt-Man/-Woman in Filmen, auf der Zirkusbühne oder bei Medienauftritten.

Für Letzteres sind insbesondere die Athlet:innen, die für die Marke Red Bull aktiv sind, bekannt. Doch ein Vertrag mit dem österreichischen Getränkehersteller hat auch Schattenseiten für die Sportler:innen. Durch bindende Verträge und organisierte Challenges, die die Grenzen des Möglichen austesten, erhalten Sportler:innen Anreize, weiter zu gehen, als sie eigentlich wollen. Sieben Personen sind im Rahmen von Red Bull-Veranstaltungen bereits ums Leben gekommen. Extrembergsteiger Reinhold Messner äußert sich diesbezüglich kritisch: „Konkurrenz spielt eine Rolle, weil die Sportler um die wenigen Sponsorenverträge kämpfen müssen. […] Wenn Druck entsteht durch mediale oder wirtschaftliche Elemente, dann ist höchste Vorsicht geboten.“

Wenn Veranstalter:innen und Zuschauer:innen also immer mehr verlangen, steigert dies die Gefährlichkeit im Extremsport. Die intrinsische Motivation und eine gute Vorbereitung sind entsprechend entscheidend – welche Motivation aus dem Mix an Einflussfaktoren auch immer überwiegen mag.  

2 Antworten auf „Alles für den Nervenkitzel“

  1. Von Nele Falk am 13. Dezember 2024

    Toller Artikel! Es ist echt spannend zu sehen, wie viele von uns die Herausforderung lieben. Die Menschenpyramide klingt wirklich aufregend, und ich kann verstehen, warum man es immer wieder machen möchte.

    Besonders spannend fand ich den Aspekt, dass Extremsport eine Form ist, Ängste zu überwinden und persönliche Grenzen zu verschieben – das bestätigt nur, dass dieser Drang zur Abenteuerlust tief in uns verwurzelt ist.

    Für diejenigen, die darüber nachdenken, nachzusehen, wie die Preise für Extremsportmöglichkeiten in verschiedenen Ländern aussehen, könnte diese Webseite hilfreich sein: https://welt-preise.de. Aber ob die Daten aktuell sind, da bin ich mir nicht ganz sicher.

    Auf jeden Fall danke für den Einblick hinter die Kulissen des Extremsports.

    1. Von Sagwas-Redaktion am 16. Dezember 2024

      Liebe Nele, danke für deinen positiven Kommentar und den Hinweis auf die tolle Website! @sagwas-Community: Bitte beachtet, dass wir Website-Hinweise kontrollieren und Schleichwerbung auf unserem Portal nicht gestattet ist.

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