Auf der Suche nach dem Ich
Bis heute kann die Wissenschaft nicht erklären, warum wir immer dieselben bleiben, obwohl wir uns verändern. Könnte es mit der Seele zu tun haben? Eine philosophische Betrachtung.
Wenn ich mir ein Klassenfoto aus meiner Schulzeit anschaue, dann scheint nichts selbstverständlicher zu sein als die Tatsache, dass ich auf dem Foto zu sehen bin. Ich sehe darauf einen neunjährigen Jungen. Er trägt meinen Namen, sein Gesicht ist dem meinen sehr ähnlich und vor allem: Ich war, oder in einem gewissen Sinn, bin diese Person. Und doch habe ich mich seit der Aufnahme des Fotos stetig verändert.
Aber von vorne. Veränderung ist ein grundlegender Bestandteil menschlichen Lebens. Schritt für Schritt ändern sich Bedingungen und Verhältnisse in unseren Leben, von unseren Körpern, unseren Beziehungen zu anderen Menschen bis hin zu unseren Persönlichkeitsmerkmalen. Vielleicht hat früher einmal eine Angst unser Handeln bestimmt, mit der wir nun gelernt haben umzugehen. Plötzlich schmecken uns Oliven oder wir sind, früher unvorstellbar, heute Mitglied eines Vereins geworden, in dem wir uns leidenschaftlich engagieren, obwohl uns das Vereinswesen lange völlig fremd war.
Wir verändern uns bis an unser Lebensende stetig. Doch gibt es nicht etwas an uns, das unverändert bleibt, einen inneren Kern? Sodass wir überzeugt sagen können: Ja, ich bin es, der oder die auf diesem alten Foto zu sehen ist. Das bin immer noch ich. Die Philosophie würde an dieser Stelle fragen: Wie lässt sich Identität im Verlauf der Zeit verstehen?
Auch Erinnerungen verändern sich mit der Zeit
Rein intuitiv würden viele sagen, dass es Erinnerungen sind, die unser Ich im Verlauf der Zeit begründen. Demnach bin ich dieselbe Person wie der Junge auf dem Foto, da ich durch Erinnerungen an und mit diesem Jungen identisch bin. Meine Erinnerungen knüpfen ein Band zwischen mir und meinem früheren Selbst. Trotz all der Veränderungen bin also dennoch ich es, der auf dem Foto zu sehen ist. In der Serie „Severance“ unterzieht sich der Protagonist Mark einer Prozedur, durch die er bei der Arbeit keine Erinnerungen mehr an sein Privatleben hat. Umgekehrt hat er im Privatleben keine Erinnerungen an das, was während der Arbeit geschah. Sobald er die entsprechenden Büroräume betritt, hat Mark ausschließlich Erinnerungen an Geschehnisse, die sich innerhalb dieser Räume zugetragen haben. Arbeits-Mark entwickelt eigene Überzeugungen und Wünsche, unabhängig von Privat-Mark. Es entsteht der Eindruck, dass es sich um zwei Personen in einem Körper handelt. Privat-Mark könnte Arbeits-Mark beispielsweise Briefe schreiben, die dieser dann lesen würde, als kämen sie von einer anderen Person. Dies legt nahe, dass es Erinnerungen sind, die unsere Identität wesentlich bestimmen. Doch so sehr uns unser Bauchgefühl diese Position nahelegt, Erinnerungen kommen als Erklärung für unsere Identität schnell an ihre Grenzen. Zum einen repräsentieren unsere Erinnerungen nicht einfach die vergangene Realität, sondern unterliegen ihrerseits wiederum Veränderungen.
Der Psychologe Peter A. Levine weist darauf hin, dass Erinnerung „einem jederzeit vom Einsturz bedrohten Kartenhaus [gleicht], das auf dem Kamm […] [weiterwandernder] Sanddünen balanciert“. Psychologische Studien zeigen außerdem, dass man Leuten falsche Erinnerungen „einpflanzen“ kann. Wie soll also etwas so Fragiles wie Erinnerungen die Stabilität von Identität gewährleisten?
Betrachten wir folgendes Szenario: Tom bekommt einen Anruf. Ein Arzt informiert ihn darüber, dass Karl bei einem Unfall sein Gedächtnis verloren habe und da dieses die Existenz der Identität eines Menschen bedinge, sei er im Grunde bei dem Unfall um sein Leben gekommen. Tom erwidert völlig aufgebracht: „Also ist Karl doch noch am Leben, er ist Karl, nur Karl mit Gedächtnisverlust.“ Man kann dem Arzt vorwerfen, eine fürchterliche Fehlinformation weitergegeben zu haben. Wenn also Erinnerung keine zufriedenstellende Antwort auf unsere Frage darstellt, was begründet dann unsere Aussage: „Auf diesem Klassenfoto bin ich zu sehen“?
Ist das Ich eine Fiktion?
Wenn alle anderen Argumente scheitern, dann bietet sich als letzte Rettung an: die Seele. Eine immaterielle Substanz, die auch dann weiterbesteht, wenn wir all unsere Erinnerungen verlieren und unser Körper sich verändert. Das Kind auf dem Foto bin demnach ich, da ich schon damals dieselbe Seele hatte.
Leider ist die Seele nur eine vermeintliche Lösung: Etwas mit etwas erklären, das selbst erst einer Erklärung bedarf? Es ist unklar, wie etwas, das immateriell ist, im Raum verortet sein kann und fähig ist, mit unserem Gehirn zu interagieren. Und was wäre, wenn man je eine Gehirnhälfte eines Menschen in zwei Körper transplantieren würde? Hätten diese jeweils eine neue Seele oder je eine Hälfte einer Seele?
Weshalb sollte es eine gute Lösung darstellen, wenn wir im Grunde nichts darüber wissen, was eine Seele ist und wie sie Identität erzeugt? Die Existenz von etwas zu behaupten, das scheinbar das Rätsel der Identität zu lösen vermag, aber nicht erklären zu können wie und weshalb, ist kein eleganter Ausweg aus dem Labyrinth des Problems der Identität. Wie kann ich also meine Annahme begründen, dass ich auf dem Klassenfoto zu sehen bin? Bisher nicht wirklich. Die Psychologin Susan Blackmore geht sogar so weit, dass wir, wenn wir die Argumente gegen ein solches Ich ernst nähmen, mit der Erkenntnis leben müssten, dass dieses Ich eine Fiktion ist. Sie schreibt: „This is tough, but I think it gets easier with practice.“ (Deutsch: “Das ist hart, aber durch Übung wird es leichter.“)
Lieber Jan,
dies ist ein unfassbar spannender und informativer Artikel! Ich habe selbst Philosophie studiert und liebe solche Themen sehr. Dein Text hat mich gefesselt und ich werde sicherlich noch eine Weile darüber nachdenken. Ganz nach dem Motto „Ich weiß, dass ich nichts weiß“.