Auf einen Tee mit dem eigenen Vorurteil
Stell Dir vor, eine völlig fremde Person erzählt Dir ein Kapitel aus ihrem Leben und teilt persönliche Geschichten. Die Lebendige Bibliothek verleiht in über 60 Ländern Personen statt Bücher. Ein Bibliotheksbummel in Toulouse.
Es ist der Internationale Tag der Kinderrechte auf dem wuseligen Place du Capitole in Toulouse. Ich bahne mir meinen Weg zum Stand der „Bibliothèque Vivante“, der Lebendigen Bibliothek. Aufmerksam schmökere ich durch die Klappentexte, bis mein Blick auf „Sofia – coeur ouverte“ fällt, die Geschichte einer jungen herzkranken Frau. „Ich würde gerne bitte ‚Sofia – offenes Herz‘ ausleihen“, sage ich zu der Bibliothekarin am Empfang. „Alles klar, ich trage Sie ein. Sie haben eine halbe Stunde Ausleihzeit und hinterlassen unser lebendiges Buch bitte in einem sehr guten Zustand“, entgegnet sie mir und führt mich zu meinem Buch. Doch sie steuert nicht ein Regal an, sondern geht zu einem Klapptisch mit orangefarbenen Stühlen. Die Bibliothekarin stellt mich Sofia vor. „Kennst Du diese Klick-Momente im Leben?“, fragt mich Sofia.
Lebensgeschichten in 3D
Sofias Leben befindet sich nicht zwischen zwei Buchdeckeln. Wo sie ihre Geschichte aufschlägt, entscheidet sie selbst. Denn sie ist Teil der Lebendigen Bibliothek, einer Veranstaltungsreihe, die ungefähr alle sechs Wochen in Toulouse stattfindet. Dahinter steckt der Verein ASSO, der sich gegen Ausgrenzung einsetzt. Seit 2017 organisiert das vierköpfige Team gemeinsam mit etlichen Ehrenamtlichen die Lebendigen Bibliotheken. Diese bestehen aus Bibliothekar:innen, einem thematisch sortierten Katalog mit Buchklappentexten und Ausleihregeln. Nur die bedruckten Seiten fehlen. Anstelle von Büchern werden Personen ausgeliehen, die ihre Klappentexte selbst schreiben und im direkten Gespräch völlig frei ihre Geschichte teilen können. Intime, traurige und natürlich auch hoffnungsvolle Episoden.
Die Idee dazu stammt ursprünglich von der dänischen Organisation Stop the violence. Bereits vor 23 Jahren fanden in Dänemark die ersten „Bibliothèques Vivantes“ zum Thema mentale Gesundheit im Rahmen eines Rockfestivals statt. Das Prinzip: Vorurteile durch direkten Dialog abbauen. Die Ausleihenden konnten mehr darüber erfahren, wie es ist, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, wodurch Stigmata abgebaut wurden. Das Konzept war so erfolgreich, dass es seitdem Städte in 60 Ländern weltweit nachahmen. Im Jahr 2003 wurde die Lebendige Bibliothek sogar vom Europarat in das Programm „Jugend für Menschenrechtsbildung und sozialen Zusammenhalt“ mitaufgenommen, um Inklusion im Alltag zu fördern.
Perspektiven erweitern in der eigenen Stadt
Dabei passt sich die Ausgestaltung an die jeweiligen lokalen Gelegenheiten an und kann kreativ verändert werden. Meistens braucht es nur engagierte „Bibliothekar:innen“, teils „Wörterbücher“, also Dolmetscher:innen, einige Mithelfer:innen und Koordinator:innen, ein paar Klappstühle, Snacks und Getränke für eine angenehme Gesprächsatmosphäre. Wichtig ist, dass die Lebendigen Bücher von den Bibliothekar:innen gut ausgesucht und auf ihre Rolle vorbereitet werden. Sie müssen sich sicher sein können, dass die Erzählenden keine Retraumatisierung erleiden. Denn das Wohlbefinden der Lebendigen Bücher steht an oberster Stelle: Es gibt für sie feste Pausenzeiten, damit sie sich vom vielen Reden erholen können. Sie müssen nicht alle Fragen beantworten und können die Gespräche an jeder Stelle abbrechen. Zudem entscheiden die Lebendigen Bücher selbst, ob sie auch von zwei oder mehrere Personen auf einmal ausgeliehen werden dürfen.
In Toulouse hat sich ASSO zum Ziel gesetzt, vor allem Menschen aus den „quartiers populaires“, den Arbeiter:innenvierteln der Stadt, einzuladen, ein Lebendiges Buch zu sein. Vertreter:innen von dort sind weniger sichtbar und häufiger Diskriminierung und Stereotypen ausgesetzt. Das biografische Lernen sorgt so nicht nur für intensive Gespräche für die „Leser:innen“. Es hilft den Sprechenden selbst, zu reflektieren und sich gehört zu fühlen. Dabei erläutert das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ des französischen Bundesministeriums des Innern und für Heimat, dass persönliche Erzählungen dabei helfen würden, geschichtliche Zusammenhänge besser zu verstehen.
„Sie müssen Ihr ausgeliehenes Buch nun leider zurückgeben“
Die halbe Stunde mit meinem ausgeliehenen Buch verfliegt viel zu schnell. Anfangs erzählt Sofia mir von ihrer Diagnose, Kardiomyopathie, einer unheilbaren chronischen Krankheit, die sie berufsunfähig machte und ihren Alltag extrem einschränkt. Sie spricht darüber, wie belastend diese Einschränkungen für sie waren, wie ausgeschlossen sie sich vom Leben gefühlt hat, aber dass sie daraufhin ihren Blickwinkel auf ihr Leben verändert hat. Wie sehr sie sich an den „petits bonheurs“ des Alltags erfreut und wie dankbar sie für jeden blauen Himmel ist, den sie durch ihr Fenster sehen kann. Es entsteht ein Austausch über die Momente im Leben, in denen uns unsere Endlichkeit besonders bewusst wird. Sehr bewegt und dankbar verabschiede ich mich von Sofia und stelle mich kurz an den Rand des Platzes, um das Gespräch sacken zu lassen.
Jede:r kann der nächste Bestseller werden
Eine Lebendige Bibliothek dauert meist einen halben oder ganzen Tag lang. Oft hängt sich das partizipative Format mit einem eigenen Stand an eine bereits organisierte städtische Veranstaltung dran. Dadurch bereitet die Bewerbung der Veranstaltung im Vorhinein weniger Aufwand und die gewünschten Begegnungen gestalten sich zufälliger. Während der Pandemie konnte dieser zufällige Austausch zwischen Fremden kaum stattfinden. Die Québecoiser Organisation AQRP betont in ihrem Leitfaden für die Lebendige Bibliothek, dass das Konzept deshalb so gut funktioniert, weil die analoge Bibliothek vertrautes Terrain für die Passant:innen ist. Der direkte persönliche Rahmen helfe, dass die Leute sich trauen, sich auf die originelle Aktion und die fremde Person einzulassen.
Nachdem ich am Empfang den Feedback-Ankreuzbogen für das Bibliotheks-Team ausgefüllt habe, drehe ich mich nochmal nach Sofia um. Mittlerweile sitzt eine ganze Gruppe Schulkinder um sie und lauscht ihr gebannt. Sofia scheint ein echter Bestseller zu sein. Laut AQRP sind diese fesselnde Erzähler:innen, die mit ihrer Geschichte Hoffnung machen.
(In Deutschland organisieren Träger in einigen Städten wie Berlin, Bottrop und Greifswald Lebendige Bibliotheken.)
Das ist eine wunderschöne Idee, stellt diese „lebendige Bibliothek“ doch die Menschen in den Mittelpunkt, und darüber hinaus ein treffendes Symbol, denn in der Literatur geht es letzten Endes auch nur um Menschen und deren Erlebnisse und Erfahrungen.