Aus der Geschichte gelernt?
Immer mehr Filme und Serien bedienen sich historischer und politischer Themen. Sie haben großen Einfluss darauf, wie Zuschauer Geschichte wahrnehmen. Authentizität und Faktentreue gewinnen an Bedeutung. Aber nicht überall.
Geschichte boomt: Im deutschsprachigen Raum sind aufwendig produzierte Historienfilme ebenso wie Polit- und Geschichtsserien aktuell der Renner – ob „Charité“, „Katharina Luther“ oder „Die Dasslers“, gezeigt wird, was Quote bringt. Auch bei Streaming-Anbietern und Produktionsunternehmen wie Netflix, maxdome und Amazon Prime ist die Nachfrage nach historisch-politischen Inhalten groß.
Allzu oft vergessen die Zuschauer, dass Filme nur Konstruktionen von fiktiven Ereignissen sind. Sie vermengen die Fakten (Historie) mit dem teilweise erfundenen unterhalsamen Teil (Entertainment) zu sogenanntem „Histotainment“. Wir können Geschichts- und Politikverfilmungen daher nicht ausschließlich als ein Unterhaltungsmedium ansehen. Vielmehr müssen wir uns bewusst sein, dass sie großen Einfluss auf unser kulturelles und historisches Gedächtnis haben. Ein Drehbuch erzählt immer nur eine Sichtweise, die stark beeinflusst ist von der persönlichen Interpretation des Regisseurs sowie der Zeit entsprechenden Feindbildern.
Tatsachen verkehren
Wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg haben untersucht, wie wir Geschichte wahrnehmen und verarbeiten. Am Beispiel des ZDF-Historiendramas „Unsere Mütter, unsere Väter“ haben die Historiker analysiert, wie junge Menschen unter 27 Jahren den Film interpretieren und sich mit den Filmfiguren auseinandersetzen. Der Film erzählt die Geschichte von fünf Freunden während des Zweiten Weltkrieges.
Die jungen Erwachsenen aus dem Raum Magdeburg, die im Schnitt 20 Jahre alt waren, kommentierten das fiktive Filmgeschehen in der Studie nicht als außenstehende Zuschauer, sondern versetzten sich in die Rollen der Filmfiguren hinein. So vermischten sie unbewusst ihre eigenen Persönlichkeiten mit jenen der fiktiven Filmcharaktere.
Die emotional aufgeladenen Bilder und die Tatsache, dass der Film vom Leben gleichaltriger Menschen handelt, brachten die Studienteilnehmer dazu, die in der Geschichtswissenschaft zugeschriebenen Rollen von Opfern und Tätern umzukehren: So hätten die jungen Soldaten im Film weder aus voller Überzeugung gehandelt, noch hätten sie wissen können, welche Verbrechen das nationalsozialistische Regime wirklich beging, behaupteten die Befragten.
Grenzen verwischen
Die Vermischung von Fiktion und Realität wird sich verstärken, denn die klassischen Grenzen zwischen den Genres lösen sich immer mehr auf. Dokumentationen nutzen zunehmend fiktive Nachstellungen. Historische Spielfilme bedienen sich mehr und mehr Fakten. Wissenschaftler beschreiben dieses Phänomen als „Para-Historie“. Diese beschreibt Filme und Serien, die ihre fiktiven Erzählungen so darstellen, als handele es sich um quellengestützte Geschichten. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht haben diese Formate jedoch wenig gemein mit Authentizität, Wahrheit oder Realität, sie bleiben Konstruktionen.
Ein Beispiel für eine „Para-Historie“ ist der ARD-Zweiteiler „Die Flucht“. Der Film erzählt die Geschichte einer vor der Roten Armee flüchtenden Gruppe Deutscher aus Ostpreußen während des Zweiten Weltkrieges. Durch die imposante Filmmusik und nicht zuletzt die Besetzung mit bekannten Schauspielern nehmen viele Zuschauer die sowjetischen Soldaten als die „Bösen“ und die fliehenden Deutschen als die „Opfer“ wahr. Sogar die Hauptdarstellerin Maria Furtwängler beschrieb den Dreh als eine authentische Erfahrung: „Es waren Bilder aus unserem kollektiven Gedächtnis. Als ich für eine der Szenen […] auf dem zugefrorenen Kurischen Haff an dem riesigen Treck entlang geritten bin, verschwammen Wirklichkeit und Vision.“
Vergangenem begegnen
Doch was bedeutet es für unser Geschichtsverständnis, wenn Filme die Wahrnehmung von Geschichte – unsere Gedächtnisbilder – prägen? Sowohl Filmproduzenten als auch Gesellschaft und Politik müssen sich bewusst sein, welche Wirkung Filme wie „Unsere Mütter – unsere Väter“ auf unsere Erinnerung von Vergangenheit haben.
Eine erste Maßnahme zur geschichtlichen Aufklärung bilden die zahlreichen crossmedialen Diskussions- und Informationsangebote rund um solche Filmproduktionen. Ob thematisch gekoppelte Dokumentationen, Zeitzeugengespräche oder Experteninterviews, mittlerweile lebt kein Geschichtsfilm mehr ohne derlei Zusatzmaterial.
Nach der Ausstrahlung von „Unsere Mütter – unsere Väter“ folgte eine Dokumentation, auf der Homepage des ZDF wurden Interviews mit Historikern veröffentlicht und es gab die Möglichkeiten, Videos vom Filmdreh anzuschauen. Allerdings wissen wir nach wie vor wenig darüber, wie vor allem junge Zuschauer solche Filme wahrnehmen und welche Erkenntnis sie daraus ziehen.
Dabei sind es nicht zuletzt gerade diese jungen Menschen, die sich heute überall in Europa solcher dramatisierten und ästhetisierten „Geschichte“ bedienen und gleichzeitig vor der Herausforderung stehen, eine europäische Identität mitzugestalten.