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Bleib mir vom Leib!

Von Christa Roth / 6. November 2019
picture alliance / blickwinkel/McPHOTO/M. Gann | McPHOTO/M. Gann

Gewalt hat viele Gesichter. Sie hinterlässt Spuren. Wer ihr ausgesetzt ist, bleibt oft traumatisiert zurück. Sich mit ihr auseinanderzusetzen, ist nicht einfach. Wir wollen es diesen Monat trotzdem versuchen.

Vier Hintergrundbeiträge werden sich der Thematik Gewalt aus verschiedenen Blickwinkeln widmen, die klassische Debatte am Monatsende sowieso. Mit einem zusätzlichen Hintergrund steigen wir ein, weil allein die Einschätzung und Definition von (il)legitimer Gewalt nicht nur unsere Autorinnen und Autoren diesmal extrem polarisiert hat.

Heile Welt? Schön wär’s. Der Newsfeed ächzt vor lauter Negativschlagzeilen. Auch die täglichen Nachrichtensendungen scheinen voll davon. Ablenkung oder Abschalten gelingt nur zum Teil. Unterhaltung lebt vielfach von einem Machtgefälle, dem niemand von uns in der Realität begegnen will. Anders als in den Medien: Die sonntägliche Krimireihe Tatort erfreut sich seit 1970 anhaltender Beliebtheit und ist längst Kult. Die legendäre Sci-Fi-Filmreihe Star Wars begeistert ihre Fans seit 1977.

Doch was beweist das schon? Konflikte, auch gewaltsame, gab es schon immer. Und vom Kampf “Gut gegen Böse“ lässt sich vielleicht noch was lernen. Zwinkersmiley. Von echter, alltäglicher Gewalt dagegen wollen die meisten am besten nichts wissen, nichts sehen, nichts hören und schon gar nicht selbst betroffen sein. Aber selbst wenn eigene (körperliche und psychische) Sicherheitszonen eingehalten werden, lässt das Thema sich nicht so leicht umgehen. Hier drei Beispiele.

Religion | „Warum lässt du mich Mühsal sehen und siehst dem Jammer zu? Raub und Frevel sind vor mir. Es geht Gewalt über Recht“, klagt der Prophet Habakuk gegenüber Gott im Alten Testament (Habakuk 1,3). Er will, dass Gott, zu dem er sich bekennt, den „Gerechten“ vor dem „Gottlosen“ rettet, verlangt Antworten auf die Konflikte in der Welt und im Grunde einen strafenden, gewaltsamen Gott.

Philosophie | „Man hat nur die Wahl zwischen Vernunft und Gewalt.“ Zu diesem Schluss kam vor über 70 Jahren der österreichisch-britische Wissenschaftstheoretiker Karl Raimund Popper in seiner Schrift „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Für ihn galt, Gewaltanwendung sei nur dann legitim, wenn sich dadurch Tyrannei verhindern oder beseitigen lasse. Intoleranz, so Popper, gehöre nicht toleriert.

Literatur | „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt.“ Johann Wolfgang von Goethe beschreibt 1782 im „Erlkönig“, eine seiner bekanntesten Balladen, eine Dreiecksbeziehung zwischen Vater, Sohn und einem gewalttätigen „Erlkönig“. Über dessen genaue Identität und den eigenlichen Sachverhalt lässt Goethe die Lesenden im Unklaren.

Den Vogel abgeschossen haben allerdings die Gebrüder Grimm mit ihrem grausamen Märchen „Das eigensinnige Kind“. Erst ein Schlag mit der Rute durch die Mutter bringt es zur Ruhe – und ins Grab. Gemeint ist damit nicht die sprichwörtliche Ruhestätte, sondern dass das innere Kind im vermeintlich unerzogenen Nachwuchs durch Züchtigung am ehesten stirbt. Was es nicht besser macht und den Autor und Literaturwissenschaftler Wolfram Ette ziemlich verstört hat, wie er in einem Interview mit der Wochenzeitung der Freitag zugibt.

Auf Facebook ist zwischen mir und einem sagwas-Leser über Ettes Schlussfolgerung zur Grimm’schen Metapher anschließend ein Streitgespräch entstanden.

CR: Wolfram Ette, Literaturwissenschaftler, sagt: „In der Kindererziehung ist immer geschlagen worden: mal mehr, mal weniger; mal im Affekt, mal systematisch. Global gesehen ist wahrscheinlich immer noch die am weitesten verbreitete Erziehungsmethode.“ Gewalt von Eltern an Kindern ist nichts anderes als traumatisierend und oft vollkommen unnötig. Ich finde schon Backpfeifen von Eltern furchtbar.

MP: Offen gestanden, finde ich das Statement banal. Es gab in der Kindererziehung immer auch gewaltfreie Alternativen – und zwar quer durch alle Kulturen und Epochen. Gewalt ist auch keine „Erziehungsmethode“, jedenfalls nicht im Sinne einer anerkannten oder etablierten Methode. Sie ist allenfalls Ausdruck von Unvermögen. Und die Unvermögenden gab es eben leider auch immer – mal mehr, mal weniger sozial akzeptiert.

CR: D’accord. Ich verstehe Ettes Kommentar dennoch als wichtigen Hinweis auf einen Missstand, den ich empirisch nicht in Zweifel ziehen kann – selbst wenn der Öffentlichkeit keine verlässlichen Zahlen vorliegen – soweit ich weiß –, zumal das Thema eben doch auch ein Tabu ist bzw. von Scham behaftet.

MP: Mir geht es auch ein wenig um einen Perspektivenwechsel: nicht Gewalt als „Normalzustand“ aufzufassen, um damit den schulterzuckenden Fatalisten und Autoritätsfanatikern die Rechtfertigungsbasis zu bieten. Um den Missstand als solchen zu erfassen ist es eben auch wichtig zu verinnerlichen: Gewalt ist nicht „normal“. Selbst in erzkatholischen Familien galt über Jahrhunderte: Wer sein eigen Fleisch und Blut schlägt, schlägt damit Christus. (Nur um mal deutlich zu machen(,) dass Gewalt selbst in erzkonservativen paternalistischen Sozialstrukturen ein No Go war.)

CR: Ich verstehe Ettes Formulierung nicht als kritiklose Feststellung. Und von Normalzustand spricht er auch nicht. Im Gegenteil. Er will ja aufrütteln, indem er diese Praxis als erschreckend gängig kennengelernt hat durch seine Forschung und das erschütternde Ergebnis öffentlich teilt. Wer was mit diesem Ergebnis macht, das steht auf einem anderen Blatt.

MP: Den Normalzustand impliziert er durch seine Formulierung: „ist immer geschlagen worden, mal mehr, mal weniger, mal im Affekt, mal systematisch …“ OK, er ist Literaturwissenschaftler und kein Pädagoge …

Welche Sichtweise sich durchsetzt und beim lesenden Publikum mehr Zuspruch erhält, ist noch offen. Und Kommentare dazu absolut erwünscht.

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