Das Leben der Anderen
Sammlungen in völkerkundlichen Museen entstammen häufig der Kolonialzeit. Kann trotzdem ein respektvoller Umgang mit der Vergangenheit gelingen? Das Lindenmuseum in Stuttgart beschäftigt sich mit seinem schwierigen Erbe.
Zunächst änderte er seinen Namen von Karl in Carlos, als er von Deutschland nach Chile auswanderte. In Lateinamerika sammelte er Gebrauchsgegenstände und Kunstwerke der indigenen Mapuche. Als deutscher Einwanderer fiel es Carlos Holz Ende des 19. Jahrhunderts leicht, die Gegenstände zu erwerben. Nach der chilenischen Unabhängigkeit lebten die Mapuche aufgrund von Konflikten mit der Regierung in schwierigen Verhältnissen. Sie wurden in Reservate verbannt, während ihr angestammtes Land in die Hände europäischer Einwanderer fiel. Obwohl ein Großteil der über 1.000 von Holz gesammelten Silberschmuckstücke, Pfeilspitzen, Textil- und Tonwaren, Körbe sowie Steigbügel bei der Schiffsüberfahrt nach Europa unterging, ist er derjenige, dem das ethnologische Lindenmuseum in Stuttgart die meisten seiner Objekte zu verdanken hat, die auf das südamerikanische Volk verweisen.
Entstanden ist das Stuttgarter Lindenmuseum 1882. Es wurde aus der Annahme heraus gegründet, dass Europa sich grundlegend vom Rest der Welt unterscheide, was nicht nur zufolge Inés de Castro, Direktorin des Museums, einem kolonialen, rassistischen Weltbild entspricht. Ziel war es deshalb, das Leben außerhalb Europas abzubilden. Anfangs stützte der Württembergische Centralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Auslande das Museum. War doch insbesondere hier ein geeigneter Ort, um neben Ausstellungen auch Vorträge von Forschern oder dem Militär über ihre Reiseerfahrungen bis hin zur Rassenkunde zu halten. So habe das Museum das Bild über die damaligen Kolonien geprägt, ergänzt Markus Himmelsbach, Historiker und Kurator der aktuellen Ausstellung „Schwieriges Erbe“ im Lindenmuseum. In den Vorträgen wurden außereuropäische Kulturen als „die anderen“, „primitiv“ oder „exotisch“ klassifiziert.
„Kolonialismus muss nicht immer mit formaler Kolonialherrschaft einhergehen“
Eineinhalb Jahre lang hat sich Himmelsbach mit der von Carlos Holz 1902 an das Museum verkauften Sammlung auseinandergesetzt. Dabei beschäftigte er sich neben der Geschichte der Objekte auch mit der Biographie des Sammlers Holz. Eine Erkenntnis daraus: „Kolonialismus muss nicht immer mit formaler Kolonialherrschaft einhergehen.“ Wenngleich Chile keine deutsche Kolonie war, so lag das Machtverhältnis zwischen Ureinwohnern und europäischen Einwanderern bald zugunsten dieser. Erst infolgedessen konnte das Lindenmuseum in den Besitz fremdländischen Eigentums gelangen.
Die meisten Objekte in den Sammlungen des Lindenmuseums gehen auf Schenkungen an den Museumsgründer Karl Graf von Linden zurück. Als Gegenleistung erhielten manche Schenker einen Orden des württembergischen Königs. Die Tatsache, dass viele Dinge nicht durch Kauf oder Tausch neue Besitzer fanden, sondern geraubt, geplündert oder im Krieg erobert wurden, fand während der Kolonialzeit kaum Beachtung.
„Es ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart.“
Aus Sicht von Museumsdirektorin de Castro ist die Forschung über die Herkunft von Sammlungsobjekten, auch Provinienzforschung genannt, Voraussetzung dafür, Näheres über den Erwerbskontext zu erfahren. Die Gegenstände könnten zwar laut Himmelsbach grob geographisch verortet werden; involvierte Personen, Begleitumstände und tiefgründiges Wissen über die Herkunftsgesellschaften wurden aber in der Regel nicht festgehalten. Das hielt den Kurator nicht davon ab, in den Unterlagen des Museums nach weiterführenden Informationen zu suchen. In historischen Dokumenten sei zumindest die Korrespondenz zwischen Museum und Sammlern erhalten gewesen. Zudem könnten in vergleichbaren Fällen andere Archive oder Institutionen sowie Partner vor Ort kontaktiert werden.
Auch de Castro betont den Dialog mit den Herkunftsgesellschaften. Rückgaben von Museumsobjekten an die Herkunftsgesellschaft, sogenannte Restitutionen, repräsentieren für sie einen erheblichen Teil einer „neuen ethischen Zusammenarbeit“. Im Jahr 2019 gab das Lindenmuseum beispielsweise eine Bibel und eine Peitsche an die Witbooi-Familie in Namibia zurück. Doch eigenständig kann das Museum nicht über Rückgaben bestimmen. Dazu gibt es zu viele widersprüchliche Einstellungen. Vielmehr handele es sich, wie de Castro sagt, um eine „gemeinschaftliche Entscheidung“ zwischen Vertreter:innen der Herkunftsgesellschaften, dem Museum, der Stadt Stuttgart und dem Land Baden-Württemberg. Mit Rückgaben erschöpfe sich allerdings nicht der Prozess der Aufarbeitung, so die Direktorin. Überreste des kolonialen Weltbilds prägten die deutsche Gesellschaft weiterhin. „Es ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart.“