„Das Selbstwertgefühl der Kinder leidet“
Anders als Legasthenie findet Dyskalkulie nur wenig Beachtung, ausgerechnet in der Schule. Therapeutin Susanne Kraut hat sich deswegen für eine Wanderung durch Bayern begeben. Im Gepäck: eine Petition für das Bildungsministerium in München.
Susanne Kraut ist eine zierliche Frau mit einem strahlenden Lächeln. Ihre Wanderung hat sie in Aschaffenburg begonnen. Mit neun Kilogramm Gepäck – Isomatte und Leichtzelt – und viel aufgestautem Frust. Zuvor hatte sie ihrer Großcousine, die zufällig die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) ist, geschrieben, um auf das Leiden der Schüler:innen mit Dyskalkulie aufmerksam zu machen. Immerhin betrifft die Rechenschwäche bis zu acht Prozent der Bevölkerung in Deutschland.
Die Antwort aus Berlin? Ließ Kraut unbefriedigt zurück. Man müsse erst prüfen, welches Bundesministerium hier verantwortlich sei. Daraufhin entschloss sich die Therapeutin, dasjenige Bundesland zu durchwandern, das ihrer Meinung nach am wenigsten Rücksicht auf Kinder mit Dyskalkulie nimmt: Bayern. Denn im Freistaat gibt es in der Schule keinen Nachteilsausgleich für dyskalkule Kinder. Die Folge sind schlechte Noten in Mathe wie auch mathelastigen Fächern, frustrierte Eltern und verzweifelte Kinder, schlimmstenfalls keine Chancen, den eigenen Wunschberuf jemals auszuüben.
Dyskalkule Schüler:innen unter psychischem Druck
Dyskalkulie bringt nicht nur Schwierigkeiten beim Lösen von Matheaufgaben mit sich. Vielmehr fehlt hier ein grundlegendes Zahlenverständnis. Zahlen werden als abstrakte Symbole wahrgenommen. Im Alltag bedeutet das, dass betroffene Personen sich schwer tun, eine Uhr zu lesen oder beim Einkaufen zu kontrollieren, ob das Rückgeld stimmt. Eine massive Behinderung also, die oft sehr lange unentdeckt bleibt.
Die eigene Scham und Vorwürfe aus dem Umfeld führten dazu, dass Kinder ihr Rechenproblem internalisieren, erklärt Kraut. „Das heißt, sie werden still und versuchen nicht aufzufallen.“ Die 44-jährige Therapeutin mit den dunklen Haaren, die eigentlich erst den Jakobsweg entlanglaufen wollte, um für das Thema Aufmerksamkeit zu generieren, erinnert sich an ein lebhaftes, munteres Kindergartenkind, das nach dem Schuleintritt nicht mehr wiederzuerkennen, weil völlig verunsichert gewesen sei. Noch schockierender: Der Fall einer Zweitklässlerin, die ihren Eltern eröffnete, nicht mehr leben zu wollen, weil sie durch ihre Rechenschwäche anders sei als ihre Mitschüler:innen.
Unterstützung meist abhängig vom Geldbeutel der Eltern
Dyskalkulie kann genetisch bedingt sein oder auch die Folge einer beeinträchtigen Entwicklung des Gehirns. Die dauerhafte Störung kann also nicht geheilt werden. Allerdings können Dyskalkulietherapeut:innen insbesondere geschädigten Kindern beim Aufbau des Rechenverständnisses helfen und, mindestens genauso wichtig, ihnen ihr Selbstwertgefühl wiedergeben und auch möglichen Folgeerkrankungen vorbeugen.
Sogar für Erwachsene kann eine Therapie sinnvoll sein, da auch sie noch Rechnen lernen können. „Die gesetzlichen Krankenkassen sollten Therapien für Legasthenie und Dyskalkulie in ihren Leistungskatalog mitaufnehmen“, fordert Susanne Kraut. Bisher müssen Betroffene die Kosten selbst tragen. Zwar gibt es beim Jugendamt die Möglichkeit, einen Antrag auf Kostenübernahme zu stellen, allerdings nur, wenn nachweislich eine seelische Behinderung wie Depression oder Angststörungen infolge der Nichtbehandlung der Dyskalkulie drohe.
Eltern rät Kraut, das Selbstbewusstsein der eigenen Kinder aufzubauen und ihre Stärken zu hervorzuheben. „Denn die hat jedes Kind.“ Auf Lehrerseite seien Schulungen erforderlich, damit diese dramatische Einschränkung überhaupt erkannt werde.
„Die Jungen Aktiven“, eine Gruppe junger Menschen im Alter von 15-35 Jahren im Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie hat die Petition namens „Dyskalkulie: Chancengleichheit, jetzt!“ auf den Weg gebracht. Um bundeseinheitliche schulrechtliche Regelungen insbesondere in Form eines Nachteilsausgleichs durchzusetzen. Der Vorwurf der Initiator:innen ist, dass Menschen mit Dyskalkulie „allein gelassen und diskriminiert werden“. Bisher gibt es in einigen Bundesländern wie Berlin die Möglichkeit, eine Aussetzung der Benotung im Fach Mathematik, bei Teilnahme an Förderungen, zu beantragen. Allerdings nur für die dritte und vierte Klasse. Weitere Ansätze sind die Verlängerung der Bearbeitungszeit und der Einsatz von „didaktisch-methodischen Hilfsmitteln“, wie es darin heißt.
Ein Nachteilsausgleich kann auch vorteilhaft sein, um dem Fachkräftemängel entgegenzuwirken. Denn die „dyskal-coolen Schüler:innen“, wie sie Kraut liebevoll nennt, sind grundsätzlich nicht minderbegabt und können so Abschlüsse erzielen, die notentechnisch ihren Fähigkeiten entsprechen.
Bringt die Wanderung etwas?
Nach rund 300 Kilometern dann, mitten in der bayerischen Provinz und noch etwa 100 Kilometer vor München, wird es emotional. Susanne Kraut gibt einem Pärchen, das sich mit seiner Ortskenntnis sehr hilfsbereit zeigt, eine Karte mit weiteren Infos zur Wander-Aktion, die sich etappenweise nachvollziehen lässt auf Krauts Instagram-Kanal mit dem vielsagenden Namen “dyskalkulie_to_go“. Der Mann erwidert skeptisch: „Damit werden Sie nichts erreichen.“ Die verantwortlichen Politiker:innen hätten für die Belange der Bürger:innen nichts mehr übrig, klagt er.
Aber jemand müsse ja anfangen, damit sich etwas tue, hält Kraut dagegen. Dass etwas getan werden müsse, zweifelt niemand an. Solche Reaktionen erzählt Kraut später, hätte sie bereits mehrfach erlebt. Sympathien hegt man bei dem kurzen Plausch dennoch für beide Seiten.
Die Wanderung der ehemaligen Bankkauffrau endet Anfang August mit einer Pferdekutschfahrt zum bayerischen Bildungsministerium. Warum ein derart überholtes Fortbewegungsmittel? Es soll als Analogie zum anachronistischen Umgang mit der Schulschwäche herhalten. Nicht unmittelbar vor das Gebäude schafft es Kraut, vor dem eine Baustelle den Zutritt verwehrt. Aber zumindest das Ziel deutlich vor Augen hat sie, wenn sie dort die erwähnte Petition überreichen wird, die bereits mehr als 9.000 Unterstützer:innen unterschrieben haben. Für noch mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit.
Sehr guter Artikel und deutlich erläutert, um was es geht. Vielen Dank dafür!