Das Spiel mit den Spielen
Als „Treffen der Jugend der Welt“ sollten die Olympischen Spiele der Neuzeit dem sportlichen Vergleich und der Völkerverständigung dienen. Die Festspiele der Antike von Olympia wurden dank des französischen Pädagogen, Historikers und Sportfunktionärs Pierre de Coubertin 1894 wiedereingeführt – und waren dabei immer auch ein Spiel politischer Akteure.
Ein Moment voller Emotionen. Anspannung und Vorfreude sind dem Männer-Nationalteam des Südsudans anzusehen. Es ist ihr erstes Spiel im olympischen Basketballturnier von Paris 2024. Vor dem Anpfiff der Partie gegen Puerto Rico soll ihre Nationalhymne ertönen, die Hymne des jüngsten Lands der Erde. Stattdessen hallen offensichtlich falsche Töne durch das Stade Pierre-Mauroy in Lille. Der olympische Geist aus Respekt, Gleichheit und friedvollem Miteinander herausgefordert. Nach nur wenigen Sekunden ist der Hymnen-Fauxpas gestoppt. Unter dem Applaus der Zuschauer ertönt die richtige Melodie.
Dieser Fehler ist deswegen brisant, da der Südsudan erst 2011 die Unabhängigkeit vom Sudan erlangt hat. Von 2013 bis 2018 befand sich das Land im Bürgerkrieg, der tiefe Spuren hinterlassen hat. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mehr als sieben der etwa zwölf Millionen Einwohner des Südsudans auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ausgerechnet ihnen, so die Wahrnehmung vielerorts, wird nun die neben einer Nationalflagge wohl größte Symbolik für nationalstaatliche Eigenständigkeit verwehrt. Auch wenn es keinerlei Anzeichen für Mutwilligkeit gibt, zeigt diese Panne den Schatten, der über dem Wettstreit der Ringe steht: der diplomatische Akt.
Ein korrumpierbares System
Es steht außer Frage, dass ein sportlicher Wettstreit immer politisch ist. Zu eng sind die Verflechtungen aus sportlichen Institutionen und politischen Akteuren. Deutlich wird dieses Spannungsfeld bei den Entscheidungen über die Vergabe der Austragungsorte. Dabei, so steht es in der Präambel der Olympischen Charta, ist das selbst ausgerufene „Ziel des Olympismus, den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen, um eine friedvolle Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist“.
Das Internationale Olympische Komitee (IOC) nahm das scheinbar nicht allzu ernst und produzierte in der Vergangenheit zahlreiche Skandale. Nazi-Deutschland etwa konnte sich auch deshalb 1936 als weltoffenes Regime präsentieren.
Die Grundlage für die in Teilen korrumpierbare moderne Sportwelt soll Horst Dassler gelegt haben, Sohn des Adidas-Gründers Adolf „Adi“ Dassler. Als „Mastermind der modernen Sportpolitik“ beschrieben ihn Johannes Aumüller und Thomas Kistner. Dassler soll einer der Ersten gewesen sein, der durch Provisionen und Honorare den Sport kommerzialisiert und den Amateursport zurückgedrängt habe, so die Journalisten.
Die beiden recherchieren seit vielen Jahren für die Süddeutsche Zeitung (SZ) zu den Machenschaften nationaler und internationaler Sportverbände. In ihrem Buch „Putins Olygarch“ lassen sie hinter die olympische Glamour-Fassade blicken und zeigen: Der deutsche IOC-Präsident Thomas Bach wäre ohne die Unterstützung Wladimir Putins, im von Dassler erschaffenen System, wohl nie auf den Thron des Sportfunktionärs gelangt. So sei Bach vor seiner Wahl zum IOC-Präsidenten nach Moskau geflogen, um dort Putins Zuspruch zu erlangen. Alfons Hörmann, ehemaliger Präsident des Deutschen-Olympischen-Sportbundes, bestätigte den Vorgang dem ZDF auf Grundlage von persönlichen Gesprächen mit Bach.
Diese Verflechtungen gehen dabei auf die Zeit des Kalten Kriegs zurück, wie die beiden SZ-Journalisten darlegen. Dassler sei sich, so schreiben Aumüller und Kistner, seit Mitte der 1960er Jahre dem großen Interesse der Sowjetunion an hochwertiger Sportausrüstung bewusst gewesen. Und so sei es zum Pakt zwischen der westlichen Hochqualitätsmarke Adidas und dem damaligen Ostblock gekommen, der den Sport zur Demonstration der Stärke des Sozialismus über den verfeindeten Kapitalismus gebraucht habe. Aumüller und Kistner zeigen in ihrem Buch auf, dass man über einfaches Sponsoring weit hinausgegangen sei und vorwiegend Einfluss auf Funktionärsebene gehabt hätte.
Die Athleten sind die Leidtragenden
An Austragungsorte, wo Regierungen nicht viel auf Menschenrechte zu geben scheinen, mag sich der gemeine Sportgucker mittlerweile gewöhnt haben, wie das humanitäre Vergehen des Welt-Fußballverbandes am Beispiel der Weltmeisterschaft in Katar 2022 zeigt.
Wie jüngste Recherchen der ARD-Dopingredaktion und der New York Times zeigen, soll der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) zugelassen haben, dass 2021 bei einem nationalen Wettkampf in China 23 chinesische Schwimmer positiv auf Doping getestet wurden und 13 davon trotzdem bei den Olympischen Spielen in Tokio starten durften. Travis Tygart, Chef der US-Anti-Doping-Agentur beklagte das aus seiner Sicht „systematische Wegschauen“ der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA): „Die WADA ist in ihrer jetzigen Form nur ein Schoßhündchen der einzelnen Fachverbände (die dem IOC unterliegen), in dem saubere Athleten kaum eine Chance haben“, kritisierte er.
Als bezeichnend könnte man deshalb von „olympischen Athleten aus Russland“ sprechen. Sie durften – trotz nachgewiesenen Staatsdopings – in Paris um Medaillen kämpfen und liefen unter weißer Flagge, aber mit in den Nationalfarben eingefärbten olympischen Ringen auf.
Am Ziel vorbei
Das Ziel eines jeden professionellen Athleten sollte es sein, bei den Olympischen Spielen teilgenommen zu haben. Das weltbekannte Mantra: „Dabei sein ist alles.“ Eine Haltung, die im Zeichen der gegenseitigen Achtung steht, für Respekt vor dem sportlichen Wettbewerb und unterschiedlichen Kulturen.
Sollten die Institutionen des Sports weiter ihre eigenen Ideale in den Hintergrund stellen, wird bald nicht mehr viel von den Spielen der Völkerverständigung übrig sein, die der französische Pädagoge Historiker und Sportfunktionär Pierre de Coubertin einst prägen wollte. Zwischen Doping, internen Machtspielen und dem Gewährleisten von Propaganda auf Kosten des Sports hat sich eine toxische Mischung zusammengebraut, deren Entgiftung einzig Einigkeit über das Wesentliche sein dürfte.