Der Vorhang fällt
Wie oder sogar ob wir uns vor neugierigen Blicken schützen und was Fremde jenseits des Internets über unser Leben erfahren können – all das wird heutzutage auffallend selten verhandelt. Die Sensibilität für den Schutz unserer digitalen Identität dagegen wächst. Warum ist das so?
Ich schaue aus dem Fenster und beobachte die Menschen in den Häusern gegenüber. Vorhang auf: Da ist das junge Pärchen, das meist die halbe Nacht auf dem Sofa liegt und fernsieht. Der Mann, der in seinem großen Wohnzimmer manchmal halbnackt ein Buch liest. Oder die WG-Küche, in der zwar oft jemand rumhängt, aber fast nie jemand kocht – außer der Mikrowelle. Nur bei der Wohnung unten rechts bleibe ich außen vor. Ich ahne, dass dort wohl jemand Älteres wohnt, denn dünne Spitzenvorhänge versperren mir die Sicht, sie sind tagsüber immer zugezogen. Wenn es dunkel wird, dienen zusätzlich Übergardinen als Schutz vor neugierigen Blicken wie den meinen.
Während Jalousien zu Nachtzeiten Verwendung finden, wirken Vorhänge wie ein Relikt vergangener Tage. In meinem Freundeskreis hat niemand Tagesgardinen, obwohl deren Funktion als Sichtschutz durchaus einleuchtet – ist doch die Wohnung der private Rückzugsort schlechthin. Tatsächlich scheint es, dass kaum noch jemand Wert auf den Schutz dieser Privatsphäre legt. Dem Blick der Nachbar*innen setzt man sich freiwillig aus. Vereinzelt sind Pflanzen auf den Fensterbrettern platziert oder Folie an den Glasscheiben angebracht. Aber das ist eher die Ausnahme. So gläsern wie unser digitales Leben abläuft, so durchsichtig und durchschaubar geben wir uns auch im analogen Alltag.
Das Private ist nicht mehr privat
Den privaten und öffentlichen Raum strikt voneinander zu trennen, ja, das eigene Zuhause als einen Schutzraum zu begreifen, der die Außenwelt nichts angeht, das scheint eher typisch für ältere Generationen. Aber warum? Liegt die Entwicklung weg von dieser Einstellung an einer neuen Bequemlichkeit meiner Generation? Schließlich gehe ich auch manchmal in Jogginghose einkaufen, was beispielsweise für meine Großmutter undenkbar wäre.
Offener, heller, funktionaler – das ist kennzeichnend für die Bauhaus-Architektur, die dieses Jahr 100 wird. Doch viel Glas beim Bau von Privaträumen ist zwangsläufig verbunden mit der Einschränkung der Privatsphäre. Transparenz und Tageslicht als architektonisches Konzept ist gewollt. Auf dem Land kennt man sich sowieso. Und in der Großstadt fühlen wir uns durch die unweigerliche Anonymität geschützt, weil wir als Einzelperson oft nicht mehr differenzierbar sind, also auch nicht angreifbar, meinen wir. Nur so kann ich mir die Unbekümmertheit erklären, mit der wir den Verzicht auf Privatsphäre häufig abtun.
Ein offener Schutzraum?
Konzepte wie Airbnb machen ein Extrem zum Normalfall: Wir teilen unser Zuhause mit Fremden, entfernen oft nicht einmal unsere persönlichen Dinge aus den Zugangsräumen. Hier spielen sicher neben Naivität und einem allzu optimistischen Glauben an das Gute im Menschen auch finanzielle Motive eine große Rolle. Es lockt das nebenbei erwirtschaftete Geld. Das hört sich clever an, und doch verkaufen wir an dieser Stelle eine nicht zu unterschätzende Portion Privatheit. Und wer einmal schlechte Erfahrungen mit Untermieter*innen gemacht hat, überlegt sich zukünftig dreimal so gut, ob und wem erneut Einlass gewährt wird in der eigenen Abwesenheit. Ich erhielt nach einer Untervermietung eine deftige Wassernachzahlung, konnte die Playstation nicht mehr finden und die Zimmer waren so schmutzig wie noch nie.
Früher war nicht alles privater
Aber nicht erst die unbedarfte, gutgläubige Generation Y macht freiwillig Zugeständnisse an den Schutz von Daten und Privatheit: Die Postkarte feiert ebenfalls dieses Jahr ihren 150. Geburtstag. Sie löste schnell den umfangreichen und teureren Brief ab. Um 1900 war das Schreiben von Ansichtskarten sehr verbreitet. Und trotz digitaler Schnappschüsse erfreuen sich Urlaubspostkarten selbst heute noch großer Beliebtheit. Mit privaten Informationen wird dabei sorglos bis nachlässig umgegangen, die Zahl der zufälligen Leser*innen ist unbestimmbar groß. Briefgeheimnis ade! Zumindest was den Adressat*innen und die an ihn oder sie gerichteten Worte betrifft.
„One hour photo“
Mich persönlich hat keine Urlaubskarte, sondern eine Kindheitsgeschichte nachhaltig schockiert: Meine Mutter wurde vor Jahren von einer ehemaligen Nachbarin angesprochen, wie groß meine Geschwister und ich doch geworden seien und was für spannende Urlaube unsere Familie immer mache. Die Auskünfte darüber hatte die Frau von ihrer Tochter, die in einem Fotolabor arbeitete. Uns hat diese Indiskretion kalt erwischt, wir gaben damals unhinterfragt unsere Filmrollen im Drogeriemarkt ab; nicht ahnend, dass uns jemand erkennen könnte. Um ehrlich zu sein, blendeten wir den simplen Fakt völlig aus, dass es letztlich Menschen sind, die die Fotos zu sehen bekommen.
Bei aller Digitalisierung in Beruf und Alltag gerät allzu leicht in Vergessenheit, dass und wo überall noch Menschen eine Rolle spielen. Menschen, die uns aus dem Verborgenen beobachten. Von dieser Warte aus gesehen, gehen wir ziemlich nachlässig mit persönlichen Informationen, Einblicken und Aussagen um. Und während wir den Schutz vor Online-Datenkraken fokussieren, besteht die Gefahr, dass unsere Transparenz in der analogen Welt ganz in den Hintergrund rückt.