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Dichtung und Wahrheit

Von Christian Stahl / 6. August 2012
picture alliance / Robert B. Fishman, ecomedia | Robert B. Fishman

Hat der deutsche Qualitätsjournalismus ein Zukunftsproblem? Ist es in Ordnung, wenn Journalisten Dichtung und Wahrheit vermischen?  Und war es wirklich nur ein halber Satz, der fehlte oder schlicht die halbe Wahrheit, als Heribert Prantl, vielgelobter und preisgekrönter SZ-Journalist, detailliert ein Essen in der Küche des Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle beschrieb,  bei dem er gar nicht dabei […]

Hat der deutsche Qualitätsjournalismus ein Zukunftsproblem? Ist es in Ordnung, wenn Journalisten Dichtung und Wahrheit vermischen?  Und war es wirklich nur ein halber Satz, der fehlte oder schlicht die halbe Wahrheit, als Heribert Prantl, vielgelobter und preisgekrönter SZ-Journalist, detailliert ein Essen in der Küche des Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle beschrieb,  bei dem er gar nicht dabei war? Schon vor einem Jahr musste der Spiegel-Autor René Pfister den Nannenpreis zurückgeben, nachdem aufgeflogen war, dass er den Märklin-Eisenbahnkeller von Horst Seehofer zwar intensiv geschildert, aber nie betreten hatte.

Ein Chat-Interview mit dem Journalisten und Politikwissenschaftler Dr. Leonard Novy, Leiter des Institutes für Medien- und Kommunikationspolitik (ifm) und Mitherausgeber des Autorenblogs CARTA über Mängel, Moral und das Ende exklusiven Maklertums im Journalismus.

sagwas: Herr Dr. Novy, für den Fall, dass wir Sie mal beschreiben müssen, ohne je da gewesen zu sein: wie sieht es denn in Ihrer Küche aus?

Leonard Novy: Die Küche ist mein Lieblingsort. Sie müssten mich mal am Küchentisch erleben. Jeder hat seinen Part, hat was zu montieren, zu parfürmieren oder was unterzuheben. Wenn nicht, fällt mir immer noch etwas zu putzen ein, der Backofen müsste dringend mal wieder… Eine Modelleisenbahn habe ich übrigens auch!

sagwas:  Nannenpreisverdächtig, Ihre Darstellung. Anders als der Spiegeljournalist René Pfister und SZ Innenressortchef Heribert Prantl beschreiben Sie, was Sie kennen. Beide Journalisten haben Szenen geschildert, die sie nie selbst erlebt haben. Die Empörung ist groß. Wieviel Dichtung ist Berichterstattern erlaubt?

Leonard Novy: Die Vermischung ist das Problem. Wer fälschlicherweise den Anschein erweckt, „Bericht“ zu erstatten, also vor Ort dabei zu sein, täuscht den Leser. Pfister und Prantl haben diese Technik nicht erfunden. Das hängt häufig nur von wenigen Worten ab und passiert immer wieder, um des schönen Effekts wegen, auch aus Bequemlichkeit. Es lässt sich aber eben nicht so ohne weiteres als „szenische Rekonstruktionen“ im Dienste des Leser rechtfertigen. Dichtung, Kolportage – all das sind ja legitime Erzählformen, sie sollten aber als solche transparent gemacht werden. Heute – Transparenz ist die neue Objektivität!, hat der US-Autor David Weinberger gesagt – mehr denn je.

sagwas: Das klingt ehrenwert, ist eine solche Ethik des Journalismus aber überhaupt noch realistisch, angesichts des steigenden Drucks, nicht nur im Online-Journalismus, um die schnelle Story to go?

Leonard Novy: Sie ist notwendiger denn je, auch wenn kurzfristige Überlegungen und die Realitäten journalistischer Arbeit – Druck, knapper werdende Ressourcen und so weiter – zunächst etwas anderes nahelegen. Ganz einfach deswegen, weil die Wahrscheinlichkeit, dass es auffällt und einem um die Ohren fliegt, heute größer denn je ist. Das hat mit einer sensibilisierten, den Journalismus der sogenannten Leitmedien zusehends kritisch hinterfragenden Öffentlichkeiten und dem Internet zu tun, das es möglich macht, Fälschungen und Unkorrektheiten schneller und effizienter denn je, teils kollaborativ, nachzugehen, diese zu dokumentieren und zu skandalisieren. Im Übrigen sind ja die Geschichten, die die Küchentisch- und Märklinaffäre ausgelöst haben, nicht gerade zwischen der Produktion von Klickstrecken und dem Umschreiben einer DPA-Meldung in den Sweatshops des Online-Journalismus entstanden.

sagwas: Eben! Der eine war ein schon mit dem renommierten Nannenpreis gekürte Spiegeljournalist, der andere ist vermutlich Deutschlands bekanntester Journalist für Innen- und Justizpolitik. Können wir dem deutschen Journalismus überhaupt noch trauen?

Leonard Novy: Ach je, kein Grund zur Panik, nur zur Erkenntnis, dass auch hierzulande Fehler passieren, dass es den einen, monolithischen Journalismus nicht gibt und dass das, was mit den Nimbus des Qualitätsjournalismus daherkommt, auch kritisch hinterfragt werde kann. Kritik an der Berichterstattung der Medien – man denke nur an den Vorwurf der Verflachung oder des Kampagnenjournalismus – ist ja nicht neu. Und ein gesundes Misstrauen gegenüber ihren Quellen ist für mich auch ein Zeichen einer aufgeklärten Öffentlichkeit. Die Frage ist, wie sich die Akteure dazu verhalten. In den USA haben Sender und Zeitungen wie die New York Times Ombudsmänner oder Public Editors, die als Beschwerdeinstanz für Leser dienen, aber auch selbst systematisch Qualitätsproblemen nachspüren und das Handeln ihrer Kollegen auch unter professionsethischen Gesichtspunkten kritisch hinterfragen.

sagwas:  Neben dichtenden Berichterstattern hat der Qualitätsjournalismus ja schon seit geraumer Zeit das Problem, unter dem Druck der jeweiligen Verlags und Marketinginteressen zu stehen. Ein kritischer Bericht über z.Bsp. eine große Automarke wird schwierig, wenn die eine Hochglanzdoppelseite schalten …

Leonard Novy: Solche Fälle mag es geben, wie auch der die großen Lebensmittel-Discounter mit ihren Anzeigen und Beilagen für viele regionale Blätter eine essentielle Bedeutung haben. Sie sind aber im Politik- und Wirtschaftsjournalismus nicht das zentrale Problem. Asymmetrien im Kräfteverhältnis zwischen einem vielerorts unter strengen Sparvorgaben leidenden Journalismus und ressourcenstarker PR, die sich subtil auf die tägliche Arbeit auswirken, schon eher.

sagwas: Liegt die große Gefahr nicht vor allem auch darin, das zu der von Ihnen beschriebenen Subtilität eine unerschütterliche Selbstzufriedenheit vieler Journalisten kommt, á la „Wir sind die Guten“?

Leonard Novy: Was man festhalten kann, ist eine gewisse Doppelmoral. Den hohen ethischen Standards, die Journalisten an die Politik anlegen, werden sie selbst jedenfalls häufig nicht gerecht. Das wurde ja im Kontext der Debatte über die Rolle der Medien beim Rücktritt Christian Wulffs auch diskutiert. Man schreibt, überspitzt gesagt, den Bundespräsident in Grund und Boden, telefoniert privat mit Pressekonditionen, macht Urlaubsreisen mit Journalistenrabatt und geht vor Ort mit Presseausweis umsonst ins Spaßbad. Das geht. Dahinter steckt wohl letztlich ein ähnlicher Mechanismus wie bei den Politikern, die allerdings schneller auffliegen und für die in der Tat strengere Maßstäbe gelten: Die Idee, man arbeite hart, es würde einem nichts gegönnt, solche Vorteile stünden einem zu, man selber bleibe ja unabhängig usw. usf.. So funktioniert es, dass man einerseits öffentlich Prinzipien wie Transparenz, Unabhängigkeit und Ehrlichkeit einfordern kann und gleichzeitig im konkreten Fall für sich selbst Ausnahmen macht…

sagwas: Der Online-Journalist und Grimmepreisträger Ansgar Mayer hat vor einiger Zeit eine „neue Demut“ des Journalismus gefordert, Demut „vor den Menschen und ihren Geschichten“. Ein Plädoyer fürs Zuhören! Wie wünschen Sie sich denn die Zukunft des Qualitätsjournalismus, auch gerade im Onlinebereich?

Leonard Novy: Es klingt trivial, aber es ist es nicht: Ob der Journalismus seine gesellschaftliche Funktion, Akzeptanz und damit auch ökonomische Tragfähigkeit in dem Maße bewahrt, hängt letztlich davon ab, ob er den gesellschaftlichen und technologischen Wandel, für den das Internet steht, annimmt und sich ihm stellt. Dies setzt voraus, dass sich alle Akteure von der liebgewonnen Betrachtung der Probleme des Journalismus aus der Partikularperspektive einzelner Gattungen und Organisationsformen, aber eben auch aus den ritualisierten Grabenkämpfen, „Pixel versus Print“ und so weiter, lösen und einen Perspektivwechsel vollziehen: Hin zu der Frage, wie Journalismus angesichts sich rasant verändernder technischer, kultureller und ökonomischer Rahmenbedingungen der Vielfalt der an ihn gerichteten Erwartungen gerecht werden kann. Dazu gehört auch die Akzeptanz der Tatsache, dass Blogs, Wikipedia und soziale Medien Teil einer Strömung sind, die den Zugang zu und die Produktion von Information und Wissen demokratisiert. Sie sind Ausdruck und Treiber eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels, auf den der Journalismus reagieren muss. Vor diesem Hintergrund kann ein bisschen „Demut“ nichts schaden. Ich verstehe darunter, die Souveränität, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Quasi-Monopol des redaktionell organisierten Journalismus als exklusiver Makler von Informationen und Wissen vergangenen Zeiten angehört, und dass es nun darum geht, diese Veränderungen produktiv in die eigene Arbeit zu integrieren und sich den Lesern und anderen Akteuren gegenüber zu öffnen. Das macht der immer wieder als Positivbeispiel genannte britische Guardian tatsächlich ganz gut, auch wenn er damit kein Geld verdient. Das bedeutet nicht, dass Journalisten ihre Alleinstellungsmerkmale und Ansprüche – professionelle Recherche, Einordnung und gute Schreibe und so weiter – aufgeben. Neue Technologien, so hat es der amerikanische Wissenschaftler Paul Starr kürzlich formuliert, „können uns von unseren alten Verpflichtungen nicht entbinden.“ Es gilt, gerade diese Verantwortung unter veränderten Rahmenbedingungen zu verteidigen und sogar auszuweiten.

sagwas:  Keine weiteren Fragen. Und  – Danke, Dr. Novy.

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