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Die Tatsachenentscheider

Von Andrea Lindner / 30. Mai 2017
picture alliance/dpa | Matthias Balk

Andrea Titz und Alexander Kalomiris entscheiden am Oberlandesgericht München über Recht und Unrecht. Dabei kommen sie nicht immer an die Wahrheit heran. Aber oft an die Grenzen dessen, was wir Gerechtigkeit nennen.

Sagwas: Ein gerechtes Urteil setzt voraus, dass der Richter die Wahrheit kennt. Was bedeutet Wahrheit für Sie?

Kalomiris: Wahrheit als Begriff ist etwas Metaphysisches, etwas Philosophisches. Als Richter kann ich über Wahrheit immer nur im Sinne der Verfahrensordnung urteilen. Ich muss mich an das halten, was ich durch meine Zeugen und die Akten weiß. Als Richter finde ich die Wahrheit nicht unbedingt heraus, denn ich prüfe nur die Beweise, die mir vorliegen. Es ist also nicht die ganze Wahrheit, sondern nur ein Teil davon.

Alexander Kalomiris (49) ist Richter am Oberlandesgericht München im Bereich Strafrecht. Als Revisionsrichter überprüft er Urteile anderer Richter auf Aktenlage. Verhandlungen und Zeugenvernehmungen hat er in diesem Amt kaum mehr. Davor war er viele Jahre lang Staatsanwalt und Zivilrichter. (Foto: Privat)

Was kann man tun, wenn Zeugen und Angeklagte lügen?

Titz: Die absolute Wahrheit gibt es nicht. Viel wichtiger ist die Erkenntnis: Es kann gar nicht um die absolute Wahrheit gehen. Ich muss mich nur fragen: Kann jemand im Zivilrecht seinen Anspruch beweisen? Oder kann ich im Strafrecht zu der Überzeugung kommen, dass er oder sie schuldig ist? Nur ein Gefühl zu haben, reicht nicht – ich muss zu 100 Prozent von der Schuld überzeugt sein.

Kalomiris: Ein Mann hat sich nach dem Urteil in einem Zivilprozess einmal beschwert, er hätte Gerechtigkeit erwartet. Da meinte der Richter: „Gerechtigkeit gibt es hier nicht, nur ein Urteil.“ Ich habe aber als Richter gelernt, Strategien zu entwickeln, damit ich merke, wann jemand nicht die Wahrheit sagt. Und ich hoffe natürlich immer, dass ich damit richtig liege.

Andrea Titz (47) ist Richterin am Oberlandesgericht München, Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins und Leiterin der Pressestelle des Gerichts. (Foto: Deutscher Richterbund)

Ist es nicht unbefriedigend, wenn man als Mensch die Wahrheit erfasst hat, sie aber als Richter nicht beweisen kann?

Kalomiris: Ja, diese Fälle gibt es. Das ist schon unbefriedigend. Wenn ich spüre, da wäre was dran, aber ich muss die Person freisprechen. Daran muss man sich als Richter gewöhnen. Es ist einfach nicht meine Aufgabe, die Wahrheit herauszufinden. Ich bin nur der Tatsachenentscheider.

Was macht Ihren Beruf darüber hinaus besonders?

Titz: Als Richter muss einem klar sein, dass man schwere Entscheidungen treffen muss. Natürlich ist es oft schwierig, wenn man den Menschen am Ende der Verhandlung die Entscheidung ins Gesicht sagen muss. In unserer Position muss man sich darüber im Klaren sein, dass nach so einem Prozess nie alle Seiten zufrieden sind.

Fällt es Ihnen deshalb manchmal schwer, Entscheidungen zu treffen?

Kalomiris: Ja. Deshalb muss ich mir bei meiner Entscheidung auch absolut sicher sein. Wenn ich selbst nicht zweifle, dann sollte es auch kein Problem sein, zu diesem Urteil zu stehen. Mit der Wut oder der Trauer der Angehörigen und Angeklagten muss ich dann leben, das sind unvermeidbare Folgen.

Wie gehen Sie damit um, wenn Ihnen jemand im Verfahren sympathisch ist? Das sollte Ihre Wahrnehmung von der Wahrheit ja nicht beeinflussen.

Titz: Ich frage mich dann: Warum reagiere ich jetzt so? Was empfinde ich? Ich mache mir meine Gefühle klar und distanziere mich aktiv davon. Klar, ich bin keine Maschine – ich habe Gefühle. Wut oder Sympathie dürfen keinen Platz in einem Prozess haben. Wenn man sich das bewusst macht, fällt es meist nicht schwer, diese Gefühle herauszufiltern. Aber als Richter darf man nicht zulassen, dass diese Gefühle den eigenen Blick trüben und das Urteil beeinflussen.

Das klingt nach einer enormen Herausforderung.

Titz: Die Öffentlichkeit denkt immer, dass es dem Richter persönlich wichtig ist, jemanden zu verurteilen. Aber das ist nicht so. Wir müssen immer unparteiisch und offen an jeden Fall herangehen.

Welches Gefühl stellt sich ein, wenn ein Fall abgeschlossen ist?

Kalomiris: Ich bin schon froh und erleichtert, wenn ein langer Prozess endlich abgeschlossen ist. Und wenn es ein Straftäter war, dem ich seine Tat nachweisen konnte, bin ich auch davon überzeugt, etwas Gutes getan zu haben.

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